Black Sea Dahu - I am my mother

Black Sea Dahu / Broken Silence
VÖ: 25.02.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Übungen in Empathie

Eine nichtrepräsentative Spontanbefragung unter Bekannten hat ergeben: Viele Menschen wollen nicht wie ihre Eltern werden. Ohnehin ist das Verhältnis zur lieben Sippschaft ja oftmals nicht ganz frei von Konflikten oder mit Komplexen beladen. Dafür mag es durchaus nachvollziehbare Gründe geben, aber das muss nicht so sein. Von Spannungen im destruktiven Sinne ist beim Familienprojekt Black Sea Dahu jedenfalls nichts zu spüren. Die Band um Sängerin und Songwriterin Janine Cathrein, der neben ihren Geschwistern Vera und Simon noch die Mitmusiker Nick Furrer, Ramon Ziegler und Pascal Eugster angehören, hat mit ihrem erst zweiten Album vielmehr zu einer beachtlichen Reife gefunden. Dass sich das Material über mehrere Jahre hinweg und während ausgedehnter Tourneen angesammelt hat, lässt das Resultat kaum erahnen, so ausgeklügelt und passgenau, wie hier alles ineinander greift. Ganz überraschend kommt das nicht freilich. Mit dem Debüt "White creatures" und diversen EPs haben die Schweizer*innen ihr kreatives Potenzial schon mehr als nur angedeutet. "I am my mother" legt nichtsdestoweniger noch einmal eine satte Schippe drauf.

"My grandmother, she forgot all about her past / History repeats itself and she has blast" – "Glue" beginnt mit einem Räuspern, ein schleppender Rhythmus setzt ein. Wie sich der Sound nach und nach weitet, so öffnet sich zunehmend auch die Perspektive: Vom intimen Blick auf die Demenz der Großmutter hin zum Existenziellen, zur Menschheit als solcher. Die Dialektik von Nähe und Ferne, die sich mehr oder minder durch das gesamte Album zieht, ist hier im Keim bereits angelegt. Sie wird im Nachfolgenden variiert und umformuliert, immer wieder verschieben sich Akzentuierung und Ausdrucksformen. Trotzdem ist da stets dieser Fluchtpunkt im Unendlichen, um den sich die insgesamt sieben Songs gravitätisch bewegen. Inhaltlich etwa im auf den Opener folgenden "Human kind", wo sich Betrachtungen über den geschichtlichen Augenblick einstellen, kurz bevor es wieder ganz nah ran geht: Du, ich – "I am you are me" – am Ende eines aussterbenden Jahrhunderts. Fließende Gitarrenpickings und mittendrin eine Fläche aus Streichern, darunter ein Beat als Herzschlag, der plötzlich erlischt.

Folgerichtig gibt "One and one equals four" dann Raum für Erschöpfung und lässt Zweifel und auch Trauer zu. Ein Abgrund tut sich auf, über dem Cathreins dunkle Stimme anmutig schwebt, versucht die Balance zu halten. Vom simplen Folk-Standard haben sich die Kompositionen und Arrangements auf "I am my mother" immer weiter entfernt, vor allem in diesem Song und auch in "Affection" lassen sich Einflüsse von Kammermusik und auch ein leichter Jazzeinschlag ausmachen. Und insgesamt klingt die Platte offener, weitläufiger. Wie der Soundtrack zu einem Film, der noch nicht existiert – den es aber auch nicht braucht, weil sich die Bilder wie von selbst im Kopf der Hörer*innen zusammensetzen. Und weil da ja immer noch die Geschichten und Episoden sind, von denen Cathreins Texte handeln. "Transience" steigt szenisch ein, beschwört das Gefühl partieller Verlorenheit, welche das rastlose Tourleben mit sich bringt, wendet dieses aber zugleich auch wieder ins Universelle: "How will I survive in this world gone mad? / There’s no way now to find you, to find you."

Die Antwort, zumindest in diesem Fall, lautet – durch und mit Hilfe von Musik. Auch das ist nur konsequent, zelebriert "Transience" die Entgrenzung vor allem auch musikalisch, in einem erhabenen Finale, das zu den besten Momenten dieses an meisterhaften Momenten reichen Albums gehört. Doch sind es vor allem und immer wieder die Menschen, auf die Black Sea Dahuvertrauen und an denen sie verzweifeln. So gesehen könnte man "I am your mother" auch als ein Konzeptalbum über zwischenmenschliche Beziehungen, ihre Widersprüche und die mit ihnen einhergehenden Probleme bezeichnen – "and in the end you are the ties you made", wie es in "Human kind" so treffend wie endgültig formuliert ist. Die Last, die mit dem Umgang mit anderen verbunden sein kann, tritt am deutlichsten im wunderbar expressiven "Make the seasons change" zu Tage. Doch Schmerz und Leid zum Trotz, es geht eben auch nicht ohne – der Titel- und Schlusssong bringt diese Unhintergehbarkeit noch einmal auf den Punkt. Mutter, Vater, Geschwister und Liebhaber*in werden der Reihe nach aufgerufen, aber nicht als Fremde, Andere, sondern als man selbst imaginiert. Einfühlung, ungeachtet der Distanz. Ein Bedürfnis nach Verständnis und Verständigung. Es ist diese emphatische Haltung, die "I am your mother" bei aller Schwere doch einen einnehmenden Optimismus verleiht.

Ja, bei oberflächlicher Betrachtung fehlt "I am your mother" der eine große Hit, den "White creatures" mit "In case I fall for you" zweifellos aufzuweisen hatte. Und wenn man denn unbedingt nörgeln möchte, könnte man auch die relative Kürze bemängeln. Nur sieben Songs, nach einer guten halben Stunde ist Schluss. Aber was in dieser Zeitspanne passiert, hallt lange nach. Black Sea Dahu haben nicht weniger als ein kleines, in sich geschlossenes Meisterwerk geschaffen. Auf "I am your mother" ist kein Ton zu viel, aber auch keiner zu wenig. Und vielleicht ist das die größte Kunst.

(Markus Huber)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Human kind
  • Transience
  • Make the seasons change

Tracklist

  1. Glue
  2. Human kind
  3. One and one equals four
  4. Transience
  5. Make the seasons change
  6. Affection
  7. I am my mother
Gesamtspielzeit: 32:36 min

Im Forum kommentieren

Outrun

2022-12-04 21:31:20

Eben live in Langenberg gesehen. Mehr Liebe, mehr Herz, mehr geht einfach nicht. In vielen Momenten zum Sterben schön.

Kalle

2022-11-14 09:19:11

Für alle die es interessiert. Neue EP Orbit ist seit 11.11. draußen! Wieder sehr gelungen.

Ituri

2022-07-01 11:50:10

Unfassbar starkes und packendes Album. Bin überwältigt. Es ist ein grandioses Musikjahr 2022.

squand3r

2022-03-07 11:38:35

„Make the Seasons Change“ - was für eine Perle!! Wird sich bestimmt auf meiner Song des Jahres Liste finden

Menikmati

2022-03-03 12:29:41

Tatsächlich ein Kleinod von einem Album, das seine Stärke aus den feinen Zwischentönen und der Komplexität seiner Melodien zieht. Vielleicht ist es zu sehr Kammerpop, dass es auch international durchstarten wird. Aber die Nichtbeachtung in Deutschland für den aktuell wohl vielversprechendsten Schweizer Musik-Export find ich schon etwas enttäuschend. Aber vielleicht kommt das ja noch. Gewisse Wellen bäumen sich nur langsam auf und werden dann plötzlich immer riesig. Ich würde es der sympathischen Band von Herzen gönnen.

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