Black Country, New Road - Ants from up there

Ninja Tune / GoodToGo
VÖ: 04.02.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Hits, Hits, Hits!

Was für ein Jahr für das Londoner Septett Black Country, New Road. Mehrere Tourabsagen liegen bereits hinter ihnen. Und dann auch noch das: "Wir haben ordentlich Schulden", klagt Drummer Charlie Wayne, bei den falschen Leuten dazu. "Wir brauchen Hits!" Meisterliche Selbstinszenierung oder die pure Verzweiflung? Unentschieden.

So launig begann diese Rezension ursprünglich, bevor sich kurz vor Redaktionsschluss einiges auf den Kopf stellte: Isaac Wood gab am 31. Januar 2022 seinen Ausstieg aus der Band bekannt. "Traurig und ängstlich", fühle er sich, auf eine Weise, die es schwer mache, gleichzeitig zu singen und Gitarre zu spielen. Auch für ein ausdrückliches Kollektiv verändert der Abschied seiner prägendsten Figur einiges. Der nachfolgende Text entstand jedoch vor dieser Nachricht, die eine völlig neue Perpektive schafft, und hört die gleiche Musik entsprechend in einem noch unbelasteten Kontext: in mancher Hinsicht ein Privileg. Doch wirkt "Ants from up there" ohnehin wie ein Übergang, der auch ein Abschluss ist. Black Country, New Road setzen ihre Arbeit ohne Wood fort, die anstehenden Konzerte fallen zunächst aus.

Klappe auf zum schwierigen zweiten Album. Fast auf den Tag genau zwölf Monate sind vergangen, seit Black Country, New Road mit ihrem Debüt "For the first time" auf die große Bildfläche traten, die zuvor schon jahrelang auf ihre Ankunft gewartet hatte. Nur sechs Songs waren dafür nötig, eine famose, zerrissene Vision experimenteller Rockmusik, stilistisch heterogen und doch von einer Spannung durchzogen, die Isaac Woods beißend-kryptische Milieustudien im Zaum des gesprochenen Wortes hielten. Dass der Nachfolger so schnell folgt, kommt durchaus überraschend im Kontext einer Band, die ihre Stücke für gewöhnlich etlichen Metamorphosen unterzieht, ihnen Zeit lässt zu wachsen oder sich selbst zu verschlingen. Doch auch "Ants from up there" zehrt noch von der kreativen Explosion der vergangenen Jahre und schließt mit zwei Epen, die bereits vor dem Erstling regelmäßig auf Bootlegs und in Live-Sets auftauchten.

Sonst ist vieles neu: Nicht zuletzt die deutlich längere Spielzeit - rund 60 Minuten füllt die Platte, von denen allein die Hälfte auf die letzten drei Stücke fällt – auch die ästhetische Kohäsion macht aus "Ants from up there" einen in mehrerlei Hinsicht anderen, ruhigeren Nachfolger. Heraus kommt so etwas wie eine Reise in die Vergangenheit, die nach vorne schaut: eine Band auf der Schwelle. Immer wieder betonen Black Country, New Road ihre Liebe für den Pop, imaginieren sich gerne als zweite Arcade Fire. Angesichts der bisherigen Sperrigkeit eine Lektion in Vergeblichkeit. Und nun? Die erste Single "Chaos space marine" deutet mit ihrem von Saxofon und Violine verschnörkelten Barock-Pop so viel Euphorie und Eingängigkeit wie nie an und vermengt Warhammer- und Morrissey-Referenzen: "And though England is mine / I must leave it all behind." Mehr Aufbruch geht nicht. Davor eröffnet wieder ein instrumentales Intro, doch kommt es deutlich knackiger und fröhlicher daher als sein Äquivalent auf "For the first time". Und "Concorde" führt seinen zärtlichen Einstieg langsam bergan in einen Festsaal kaum gebrochener Sentimentalität. Die Bläser flackern am Rande des Refrains, während das titelgebende Flugzeug zur komplexesten Metapher des Albums wird: als Grabstätte großer Projekte, als Absturz einstweiliger Utopien.

Wood gibt sich deutlich verletzlicher und singt meistens statt zu sprechen, wobei seine brüchigen, wackeligen Vocals sich im Kontrast zur wilden Virtuosität der übrigen Instrumente Gehör verschaffen wollen: mal mit berührendem, mal mit anstrengendem Effekt. Thematisch kreisen die meisten seiner Erzählungen im weiteren Verlauf um das Ende einer Romanze, geben sich vordergründig direkter, aber verschließen sich auf andere Weise: durch Privatismen, Selbstbezüglichkeiten und häufig wiederholte Motive und Textfetzen. Und schon bald zeigt sich, dass auch der anfängliche Überschwang nicht von Dauer ist. Mit Ausnahme des etwas ziellos mäandernden "Good will hunting", das nie so ganz Fahrt aufnehmen will und lyrisch mit arg zeitgeistigen Klischees aufwartet – "She had Billie Eilish style / Moving to Berlin for a little while" – schwelgt der Mittelteil in zaghaften, beinahe gedrückten Songs, die sich nur vorsichtig bewegen wollen. Der niedergeschlagene "Bread song" entwickelt seinen epischen Ambient-Chamber-Folk mit einer post-rockigen Geduld und skizziert ein Beziehungsende anhand von technischen Verbindungsproblemen und Brotkrümeln. Eine mutige Entscheidung stellt "Mark's theme" dar, in dem Saxofonist Lewis Evans seinem an COVID-19 verstorbenen Onkel ein kleines Denkmal in Form einer waschechten Jazz-Ballade baut. Sein warmer, weicher Ton lässt dabei stellenweise an den sanften Riesen Dexter Gordon denken.

"Haldern", entstanden aus einer Live-Stream-Impro beim gleichnamigen Festival, inszeniert ein melancholisches Gespräch aus fragilen Gitarren, tröstenden Klavierfiguren und flirrenden Geigen, das sukzessive aufgewühlt wird. Trotz zahlreicher wunderschöner Momente erzeugen die ausladenden Songstrukturen zum ersten Mal in der jungen Geschichte der Band den Eindruck einer etwas trägen Monotonie, der sich jedoch spätestens mit dem fulminanten Abschluss-Duo vollständig auflöst. Auch "Snow globes" holt tief Luft während seines dreiminütigen wortlosen Aufbaus, doch knistert darin eine Spannung, die Godspeed You! Black Emperor alle Ehre machen könnte. Das Schlagzeug deutet den Takt eher an als ihn vorzugeben, bis es in der Klimax expressiv am Track vorbei soliert. "Snow globes don't shake on their own", wiederholt Wood stoisch – ein wunderbar evokativer Moment, der an das genau im falschen Augenblick zusammenbrechende Rhythmusgebäude von "Sunglasses" erinnert.

"Basketball shoes" setzt zum zwölfminütigen Finale Furioso tatsächlich noch einen drauf: Zunächst schleicht es durch ein Tal desolater Schwermut, legt zwischendurch angespannten Emo-Rock ein, um abschließend noch gewaltige Chöre zu beschwören und donnernde Gitarrenmonumente zu errichten. "My bedsheets now are wet / Of Charli I pray to forget", bekennt ein fanatischer Wood. Der Finger deutet selbstreferentiell auf eine frühere Fassung des Songs, die eine reichlich bizarre Mischung aus feuchtem Traum von Charli XCX und trauriger ödipaler Phantasie erzählte. Man kann nicht umhin, diese Stelle als emblematische Abkehr vom Pop per se zu lesen, als Endpunkt einer Reise, die beschwingt und zugewandt begann und nun in einem irren Crescendo kapituliert. "Oh, your generous loan to me / Your crippling interest", brüllt Wood völlig entfesselt zum Abschluss – da sind sie wieder, die Schulden: vielleicht einfach ein Beleg dafür, dass zurzeit kaum jemand das Spiel mit dem doppelten Boden besser beherrscht. "Ants from up there" deutet in verschiedene Richtungen, entpuppt sich als Übergangswerk, das seine widerstrebenden Impulse vor aller Augen fulminant verhandelt. Manchmal droht das fast zu viel zu werden und klassische Hits schreiben Black Country, New Road nach wie vor keine. Doch wer freut sich nicht darüber, dass Rockmusik 2022 noch so spannend sein kann?

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Chaos space marine
  • Concorde
  • Snow globes
  • Basketball shoes

Tracklist

  1. Intro
  2. Chaos space marine
  3. Concorde
  4. Bread song
  5. Good will hunting
  6. Haldern
  7. Mark's theme
  8. The place where he inserted the blade
  9. Snow globes
  10. Basketball shoes
Gesamtspielzeit: 58:46 min

Im Forum kommentieren

Entenmeister

2023-03-22 22:56:46

Warum? Ist doch ne geile Pladde

snowballembarrass

2023-03-22 22:40:54

Die acht Punkte sind eine Schande

florelle

2023-01-02 10:41:20

https://www.youtube.com/watch?v=p5twNvjclbQ&list=RDp5twNvjclbQ&start_radio=1

die haben ja ne zweite cover-ep aufgenommen! hab ich gar nicht mitbekommen!

Urbsi

2022-12-22 21:27:46

„The Place…“ klingt wie ein Song von Hefner. Das ist ein Kompliment. Toller Song, tolles Album.

saihttam

2022-10-17 15:51:28

Also ich finde den ersten Choreinsatz bei Good Morning etwas zu schrill. Das DadaDada danach hebt den Song aber für mich noch mal um mehrere Euphoriestufen an. Wie so eine Art befreiendes Gruppenerlebnis. Grandios!

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