Earl Sweatshirt - Sick!

Tan Cressida / Warner
VÖ: 14.01.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
5/10

Balanceakt über dem Ungewissen

"People are strange, when you're a stranger", stellte Jim Morrison einst fest – ein Eindruck, der den meisten Menschen mehr oder weniger vertraut sein dürfte. Doch was passiert, wenn er zum Normalzustand, der eigene Alltag fremd wird? Diese Frage trieb Thebe Neruda Kgositsile als Earl Sweatshirt in der Vergangenheit und über diverse biografische Zäsuren hinweg immer wieder um. Ob in der tiefschwarzen Apathie von "I don't like shit, I don't go outside", dessen Titel die vergangenen zwei Jahre sinister zu antizipieren schien, der bodenlosen Depression der "Solace"-EP oder dem zerschossenen, abseitigen Jazz-Rap auf "Some rap songs", einer Collage aus Trauer und Identitätssuche – regelmäßig fand Sweatshirt seine Form im abbrechenden Gedanken, löste seine Gewissheiten zunehmend auf. Vielleicht erscheint er auch darum so viel älter als knapp 28 Jahre. "Sick!" setzt die Reihe salopper Titel fort und knüpft auch an andere Traditionen an. Mit gerade einmal 24 Minuten hält es die Spielzeit des Vorgängers, erneut ist musikalisch und textlich die Dichte des Ausdrucks oberstes Prinzip Sweatshirts. Als lang erweist sich vielmehr die Liste seiner rhetorischen Mittel: eine verschlungene Eloquenz, in der Alliterationen und Assoziationen einander präzisieren.

Für Hooks hat "Sick!" entsprechend keine Zeit mehr, dennoch wirkt es deutlich kompakter und zugänglicher als "Some rap songs". Die dystopischen Synthieflächen des Openers werden mit Regengeräuschen und einer sich im Echo verlierenden Stimme beträufelt, während Sweatshirt in der ersten Zeile den Leib-Seele-Dualismus auf den Kopf stellt: "Strong spirit where the body couldn't get asylum." In der Folge leiten meist vertrackte Beats, die diesmal aber nicht permanent ihren Takt aufgeben, und analoge Instrumente durch seine Tracks; Arpeggien zwischen Piano, Harfe und Xylofon kehren motivisch wieder. So umspielt die famos von Black Noi$e produzierte erste Single "2010" Sweatshirts Reminiszenzen mit einem Sample des japanischen Jazz-Musikers Masahiko Satoh, doch dauert es danach nicht lange, bis ein durch den Abgrund rollendes Klavier im Titeltrack die gedämpfte Hektik des Beats verdüstert. Als wäre Mobb Deeps "Shook ones" von der Straße in die Isolationszelle transplantiert worden.

Auch die wenigen Gäste können als Fingerzeig verstanden werden. Mit Zelooperz' exzentrisch verschlepptem Flow, der seinem Detroiter Weggefährten Danny Brown die Hand reicht, und dem Duo Armand Hammer wendet sich Sweatshirt entschieden dem Underground zu. Letzteres brilliert auf dem lyrisch komplexen "Tabula rasa", das über Abstammung und Reife sinniert und eine Art Herzstück des Albums bildet. Elucid und Billy Woods (Geheimtipp: sein 2019er-Album "Hiding places"), erfahrene Chronisten des urbanen Verfalls, bereiten auch symbolisch den Weg für Sweatshirts abschließenden Vers, in dem das poetische Feuerwerk vollends detoniert: "Been to there and back, tall tales tossed to the breeze / We keep facts in the midnight wax, family tree sap / Light leak through the leaves on familiar tracks." Der Vortrag ist dezent und aufgeräumt, als wollte er nicht ablenken. Sweatshirt war eben immer schon eher Lyriker als Showman.

Natürlich gerät auch "Sick!" nicht zu einem leichten Hörvergnügen, dafür ist seine ästhetische Vision viel zu sperrig: der Versuch, den Ausnahmezustand der Welt mit persönlicher Heilung zu konfrontieren. Doch die verschoben schunkelnden Bläser von "Lye" oder die ruhige Stimmung von "God laughs", einer konzentrierten theologischen Auseinandersetzung in zwei Minuten, setzen andere Akzente als die Vorgänger, suggerieren ein wenig mehr Stabilität als deren Niedergeschlagenheit oder experimentelles Chaos. Während Sweatshirt bereits verstummt ist, verwandelt sich das geloopte Gitarrenlick im Closer "Fire in the hole" für die letzten zwei Minuten in die weiche Melancholie warmer Klavierakkorde. Sinnlich und zugleich zaudernd schließt dieses Kapitel, Sweatshirt wendet den Blick nicht ab. Wie heißt es an anderer Stelle? "We got us a fire to rekindle."

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • 2010
  • Tabula rasa (feat. Armand Hammer)
  • God laughs

Tracklist

  1. Old friend
  2. 2010
  3. Sick!
  4. Vision (feat. Zelooperz)
  5. Tabula rasa (feat. Armand Hammer)
  6. Lye
  7. Lobby (Interlude)
  8. God laughs
  9. Titanic
  10. Fire in the hole
Gesamtspielzeit: 24:00 min

Im Forum kommentieren

Sheesh

2022-01-12 20:39:03

Nice

Armin

2022-01-12 20:23:36- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

Armin

2021-12-10 20:28:42- Newsbeitrag

Earl Sweatshirt kündigt mit dem Release seiner neuen Single "Tabula Rasa", auf der er mit dem Underground-Duo Armand Hammer kollaboriert, sein lang erwartetes neues Album "Sick!" (VÖ: 14.01.2022) an. Im November kehrte der ungeheuer talentierte und poetische Songschreiber mit seiner ersten Solo-Single seit zwei Jahren zurück – in "2010" beschreibt der Rapper seine bescheidenen Anfänge und reflektiert seinen bisherigen Erfolg. Zuvor meldete er sich zuletzt 2019 mit seiner EP "Feet Of Clay", die von Pitchfork eine äußerst seltene 8,4-Bewertung erhielt.


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