My Disco - Alter Schwede

Heavy Machinery
VÖ: 29.11.2021
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
5/10

Wo es knirscht

Kann Rockmusik jetzt endlich weg? Wenn es nach My Disco geht, schon lange. Entsorgt hatten die Australier das Genre im Grunde schon auf "Severe", einer extrem rigiden Gitarrenplatte, die sich auch Swans oder Shellac beim Zertrümmern ihrer Instrumente auf einer zerklüfteten Abraumhalde hätten ausdenken können. Der Gipfel der Reduktion? Weit gefehlt, denn mit "Environment" strichen My Disco sich selbst 2019 noch drastischer zusammen: magenversengende Drone-Schmurgeleien statt Riffs, Soundscapes statt Songstrukturen, Klangschalen im Entschleunigungs-Modus statt wie auch immer geartete Rhythmen. Und veranstaltete doch mal eine Gitarre den Lärm, den man gemeinhin von ihr erwartet, folgten wie zum Hohn geschlagene drei Minuten Regenrauschen. Ein Meisterwerk aus dem Herzen des Nichts – was kann da noch kommen?

Das ramponierte Schaben, das den sechsten My-Disco-Longplayer eröffnet, kann da nur eine unvollständige Antwort geben – und wirft gleichzeitig die Frage auf, ob es sich um androides Hundebellen, einen Schaufelradbagger mit Gleichlaufschwankungen oder ein aus dem letzten Loch pfeifendes Echolot handelt. Auch zurückgenommene Percussions und eine bedrohlich wogende synthetische Fläche vermögen das zerrende Etwas, das der Dreier zusammen mit dem an Einstürzende Neubauten erprobten Mix-Engineer Boris Wilsdorf bei interkontinentalen Sessions zwischen Melbourne und Berlin zusammengeschweißt hat, nur notdürftig zu besänftigen. Wo es knirscht, da lass Dich nieder, ehe "Irreversible" in die gleichen Tiefen abtaucht, wo zuletzt "Exercise in sacrifice" die Dark-Ambient-Ohrenschrauben anzog. Aber Vorsicht: My Disco holen gerade erst Luft.

Denn bevor "Alter Schwede" noch kryptischer werden kann als sein Titel, spricht dieses Album Klartext und simuliert auf Deutsch eine Führerscheinprüfung im Walzwerk. Obwohl der fantastische, atonale Stahltanz "StVO" als einziger Track artikulierte Vocals aufweist, ist das Maximum an Interpretationsverweigerung erreicht, wenn eine Stimme zu absonderlichem Industrial-Groove ungerührt über Tempolimits, Überholverbote und Fahrzeugklassen referiert. Ein akustischer Body-Horror-Albtraum, der sich in wenig mehr als dreieinhalb Minuten zum absurden Hit mausert – und vielleicht das eingängigste Stück von My Disco, seit man 2011 einen Song wie "Young" auf "Little joy" noch relativ gefahrlos unter Post-Punk abheften konnte. Dass es mit diesem hier nichts mehr wird, bestätigt noch einmal die dröhnende, mit Maschinen-Gerumpel unterlegte Piano-Figur von "Meshes".

Ein massives Rollkommando wartet allerdings noch, bis sich "Alter Schwede" ab dem sechsminütigen Rauschen aus der "Baustellenlüftung" samt Kettenrasseln allmählich die Ruhe antut: In der "Folterkammer" rasseln und malmen die Beats selbst ständig dazwischenkreischende Buntmetall-Attacken nieder, während der sirrende Harmoniegesang der Danny-Elfman-Sounddesignerin Berit Gilma wie ein menschliches Theremin über der dräuenden Szenerie spukt. Ein nachgerade verführerisch leichtes Element eines Albums, das zumindest gefühlt genauso schwer wiegt wie der gleichnamige 217-Tonnen-Findling im hamburgischen Övelgönne. So heavy kann kaum eine Rockplatte sein. Und außerdem: Augen und Ohren auf im Straßenverkehr. Sonst scheppert es noch genauso wie in dieser großartigen, finster entschlossenen halben Stunde.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • StVO
  • Meshes
  • Folterkammer

Tracklist

  1. The shore
  2. Irreversible
  3. StVO
  4. Meshes
  5. Toil
  6. Folterkammer
  7. Baustellenlüftung
  8. Third place
Gesamtspielzeit: 33:18 min

Im Forum kommentieren

NeoMath

2022-01-10 18:05:20

Finde das Album recht gelungen und stimmig. Feine Untermalung für die schlaflose Nacht.
Geht mir besser rein als die letzte Low.

Armin

2021-12-20 20:26:08- Newsbeitrag

Frisch rezensiert. "Album der Woche"!

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