Nick Cave & The Bad Seeds - B-sides & rarities (Part II)

BMG / Warner
VÖ: 22.10.2021
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

A tiny little pain

"I thought these songs would one day set me free." Seit Nick Cave 2015 seinen Sohn Arthur verlor, scheint er jede Barriere vor seinem Publikum eingerissen zu haben. Seine Musik wurde endgültig zum offenen Traumadokument, das sich in seiner Unbegrenztheit auch nicht vor vermeintlichen Kitsch-Gipfeln scheute und damit auf "Ghosteen" für manche Ohren zu viel wurde. "Earthlings" trägt mit eingangs zitierter Zeile und den "Kumbaya"-Chören am Ende dieser Entwicklung vollumfänglich Rechnung. Der Song schließt den zweiten Teil der "B-sides & rarities"-Sammlung von Cave und seinen Bad Seeds ab, die in ihrer Gesamtheit daran erinnert, dass der Australier bereits vor der öffentlichen Trauerbewältigung ein übersprudelnder Quell Katharsis verheißender Klänge und Worte war. Ganze 56 Tracks umfasste die erste Compilation und ihr Nachfolger, der mit den Jahren 2008 bis 2019 einen vergleichsweise kurzen Zeitraum im Bandschaffen abdeckt, schafft es auch immerhin auf fast die Hälfte.

Zwar war fast die komplette erste Hälfte des Albums auch vorher schon zugänglich, doch erst in dieser konzentrierten, liebevoll und kohärent zusammengestellten Form strahlen die Stücke als Katalog alternativer und tatsächlicher Bad-Seeds-Geschichte. Drei B-Seiten von "Dig, Lazarus, dig!!!", dem letzten Rock-Album der Band, eröffnen die Platte: Das beschwipst feiernde "Hey little firing squad", die kleine Country-Ballade "Fleeting love" und "Accidents will happen" mit seinem zerzausten Solo zeigen, wie Cave und Co. vielleicht geklungen hätten, wären sie auf leichteren, poppigeren Pfaden weitergewandelt, anstatt in experimentelle Synth-Abgründe zu blicken. Ebenfalls wunderbar in die luftige Stimmung passt das Jeffrey-Lee-Pierce-Cover "Free to walk", in dem Duettpartnerin Debbie Harry ihre innere Folk-Sängerin auslebt. Die Schwermut beginnt erst mit "Avalanche". Als die Bad Seeds jenen Leonard-Cohen-Song auf ihrem Debüt "From her to eternity" zum ersten Mal coverten, war er ein sich selbst zersetzender, provokanter Giftbrocken. In dieser Neuaufnahme begleitet Warren Ellis' leidende Geige einen 30 Jahre älteren Mann am Klavier, in dessen niedergeschlagenem Vortrag alle Erkenntnisse der dazwischen vergangenen Zeit nachhallen.

Im Folgenden vollziehen wir Caves Metamorphose nach, stilistisch wie erzählerisch. Auf dissonanten Drones zeichnet das "Push the sky away"-Outtake "Needle boy" einen abergläubischen Protagonisten, dessen Paranoia sich in einem Heuschreckenschwarm schmelzender Streicher entlädt. Tauben mit Gasmasken und ein geschwätziger Zeus bevölkern das zitternde, zuckende "Lightning bolts". Später, im eindringlichen Spoken-Word-Track "Steve McQueen", wird der Erzähler selbst zum gottgleichen Unheilbringer, auch wenn sich die Mordschilderungen als einsame Fantasien vor seiner Hausfliege entpuppen. Im Closer der ersten CD, einer Live-Version des "Push the sky away"-Titelstücks mit dem Melbourne Symphony Orchestra, ist von diesem Menschenhass jedoch noch nichts zu spüren. Man könnte darüber streiten, ob diese Darbietung mit Chor und großer Geste nicht der subtilen Schönheit des Originals widerspricht – doch wenn Cave mittendrin Danksagungen an alle Leute auf und vor der Bühne ausspricht, äußert sich wieder das jüngst noch bedeutsamer gewordene Programm seiner Kunst, die Musik als ungefilterten Kanal zwischen allen aktiv und passiv daran Beteiligten zu begreifen.

Der zweite Part der Platte widmet sich ganz bisher unveröffentlichtem Material aus den "Skeleton tree"- und "Ghosteen"-Sessions. Unheimliche Klagegesänge wie in "Big dream (with sky)" treffen auf die Pianoballaden "Euthanasia" und "Life per se", die einen zaghaften Optimismus ausstrahlen. Daneben gibt es zwei Instrumentals sowie ein paar freiförmige First Takes von Albumtracks, wobei vor allem "Skeleton tree" ohne Percussion aber mit Jesus-Schelte wunderbar für sich steht. Ein wenig skizzenhafter als auf der ersten Hälfte wirken diese Raritäten hier durchaus – doch wenn einer der größten Songwriter unserer Zeit seinen Arbeitsprozess zugänglich macht, ist der Gewinn sicher kein rein voyeuristischer. Offen ist bei Nick Cave, das haben wir inzwischen gelernt, sowieso immer alles. "In the end it is your heart that kills you / It's all wrong, but it's alright in its way." Das, was uns den tiefsten Schmerz zufügt, erweist sich zuverlässig als größtmöglicher Spender für Trost und Heilung. Für Liebe gilt das genauso wie für die Musik eines ganz besonderen Geistervaters.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Hey little firing squad
  • Avalanche
  • Needle boy
  • Lightning bolts
  • Big dream (with sky)
  • Steve McQueen

Tracklist

  • CD 1
    1. Hey little firing squad
    2. Fleeting love
    3. Accidents will happen
    4. Free to walk (with Debbie Harry)
    5. Avalanche
    6. Vortex
    7. Needle boy
    8. Lightning bolts
    9. Animal X
    10. Give us a kiss
    11. Push the sky away (with Melbourne Symphony Orchestra) [Live]
  • CD 2
    1. First Skeleton tree
    2. King sized Nick Cave blues
    3. Opium eyes
    4. Big dream (with sky)
    5. Instrumental #33
    6. Hell villanelle
    7. Euthanasia
    8. Life per se
    9. Steve McQueen
    10. First Bright horses
    11. First Girl in amber
    12. Glacier
    13. Heart that kills you
    14. First Waiting for you
    15. Sudden song
    16. Earthlings
Gesamtspielzeit: 91:31 min

Im Forum kommentieren

Phasm

2022-01-16 21:30:01

Was für eine fantastische Zusammenstellung.
Durchweg unglaublich hohe Qualität, selbst bei den teilweise skizzenhaften Songs auf der zweiten CD.

9/10

Cow

2022-01-02 21:10:45

Review ist Zucker.

ijb

2021-12-21 08:13:05

Guter Text. Sehr gut getroffen.

Ein wirklich starkes Album, das ich sogar lieber höre als "Carnage" und vor allem als "Ghosteen".

Armin

2021-12-20 20:20:53- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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