
Arca - KICK ii / KicK iii / kick iiii / kiCK iiiii
XLVÖ: 03.12.2021
Ich glaub', ich seh' doppelt: vier Arcas!
Dagegen wirken selbst Lana Del Rey und Haiyti wie die Faultiere des Musikbusiness: Zum Ausklang des Jahres 2021 hat Alejandra Ghersi an vier aufeinanderfolgenden Tagen vier Alben veröffentlicht. Ist es Größenwahn? Nun, nachdem sich die als Arca bekannte, venezolanische Produzentin von den Hintergrundarbeiten für Björk oder Kanye West emanzipiert, ihre eigene Stimme und Präsenz immer mehr in den Vordergrund gestellt hat, scheint sie ihre Ankunft als eigener Avantgarde-Pop-Star mit größtmöglichem Nachdruck zelebrieren zu wollen. Doch ihre Kunst trägt weniger Maximalismus und mehr Gleichzeitigkeit als Motto. Ghersi ist eine nonbinäre Transfrau und ihre Ablehnung starrer Ordnungsgewalten äußert sich bei ihr stets auch in der Form. Sie veröffentlicht einstündige Singles, lässt eine KI 100 Remixe eines einzelnen Songs anfertigen und ihre Visuals suchen auf abstoßend-ästhetische Weise die wörtlichen Schnittstellen von Fleisch und Metall. Die Teile "ii", "iii", "iiii" und "iiiii" der "Kick"-Albenreihe erscheinen also deshalb fast zeitgleich, weil sie alle Facetten dieser so distinktiven Künstlerin auf einmal präsentieren wollen, ohne Gewichtung und ohne Rücksicht auf Industriezyklen oder die Aufnahmekapazitäten des Publikums.
So hat jedes der vier Alben seinen eigenen Charakter, doch die Grenzen verschwimmen zusehends. "KICK ii" wirkt zunächst wie eine Fortführung der auf KiCk i kultivierten Reggaeton-Anleihen und konventionelleren Pop-Strukturen. Die als Doppelsingle releasten "Prada" und "Rakata" gleiten mit schwitzigen Rhythmen und schockgefrosteten Synths zur Tanzfläche, wo wahrscheinlich eh schon alle nackt und in den Körperöffnungen des einverstandenen Gegenübers verschwunden sind. Doch wenn letztgenannter Song am Schluss hörbar in Flammen aufgeht und auch im aufgeputschten "Tiro" die Funken sprühen, weist Ghersi darauf hin, dass die Party bald ihr Ende finden wird. Nachdem das wundervolle "Luna llena" den Club zur pianogetränkten Mondlandschaft umgestülpt hat, driftet die Platte mit Tracks wie dem nach Luft schnappenden "Lethargy" oder der auf der Stelle schwebenden Collage "Muñecas" in weitaus abstraktere Gefilde ab. "Araña" klingt wie ein langsam schmelzendes Spielzeuginstrument, das noch ein paar letzte Todesmelodien ausstößt, doch die Irritation perfekt macht erst "Born yesterday": eine EDM-Ballade mit unerwartetem Mainstream-Gestus, in der Sias altbacken-generische Gesangslinie dem futuristischen Chaos auf den Füßen steht.
Von den spacigen Abgründen des Closers "Andro" begleitet, fragt man sich, ob Ghersi bei aller Klasse hier nicht noch mit angezogener Handbremse fährt. Das ändert sich mit "KicK iii". Der dritte Teil der Reihe ist ein Album der konstanten Überforderung, ein Maschinenwesen auf Speed, das vielarmig Tanzmusik dekonstruiert und wieder ausspuckt. "Did I stutter? / Hear me roar", rappt Ghersi im Opener "Bruja", einem perkussiven Klingenwetzen, in dem auch kurz die Opernsängerin aus "Das fünfte Element" vorbeischaut. "Incendio", ein Industrial-Rap-Bolzen aus T-1000-Flüssigstahl, nimmt indes das Wort "Flow" wörtlich, wenn sich die Vocals erst Helium einflößen und dann in aggressive Shouts verwandeln. "Electra Rex" formt zwischen seinen Kurzschlüssen eine genderfluide Version der Freud-Komplexe, während "Ripples" die Chipmunks am Deckenventilator aufhängt und "Morbo" seinen speckigeren Synths entsprechend etwas schwerfälliger abdreht. Da erscheint es passend, dass an "Rubberneck", das seine hyperaktiven Beats schnell ins Unterwassertheater lenkt, der lange Zeit verschollene Max Tundra mitgewirkt hat, der ja am liebsten auch alle Musik der Welt gleichzeitig machen würde.
Und das geht munter so weiter. "Fiera" vertont eine in Echtzeit einstürzende Fetisch-Disco, in der vorher sicher der NSFW-Glitch-Hop von "Señorita" einmal feucht durchgewischt hat. "Skullqueen", das sich in der Schlussminute kurz aufs Klo verdrückt, lässt sich in diesem Kontext schon als Ruhepol begreifen – zumindest, bis die Platte nach dem Stimmen-Häcksler "My 2" wirklich abkühlt. Die Synth-Streicher von "Intimate flesh" leiten hier in "Joya" ein, einem der aufrichtig schönsten Stücke des gesamten Arca-Katalogs, das ganz in der Tradition früher Björk-Balladen steht. Damit schafft Ghersi auch einen fließenden Übergang zum vierten Part, in dem die durchgezwirbelten Synapsen wieder verschnaufen können. Doch will man "kick iiii" mit einem einzigen Attribut erfassen, ist es weniger das ruhigste Album der Serie, sondern mehr das inhaltlich dichteste, in dem die Reflexionen über das eigene Selbst und queere Identität im Allgemeinen am meisten Raum bekommen.
"Bloodlust for beauty", lautet das Schlussmantra des eröffnenden "Whoresong" und pointiert damit perfekt die Antriebskraft hinter Ghersis transmedialer Kunst. Später erzählt Garbages Shirley Manson über verrauschten Post-Rock-Gitarren von einem "Alien inside" und "Witch" beamt sich gemeinsam mit No Bra komplett in den Hörsaal, indem es sogar Julia Kristevas Abjekttheorie streift. Die zentrale Idee der Platte: LGBTQ-Menschen tragen eine Art innerer Fremdheit in sich, die regelmäßig mit der heteronormativen Welt auf Kollisionskurs gerät, aus der sie aber auch ihren individuellen Selbstwert beziehen. Aus dieser Dialektik von Leid und Selbstermächtigung formt die Planningtorock-Kollabo "Queer" einen gleichermaßen mächtigen wie in epischer Trauer verfallenden Hit mit Synths so groß und kalt wie Gletscher und einer eindeutigen Bildsprache: "I got tears / But tears of fire / Tears of power."
An den meisten anderen Stellen äußert sich die Nachdenklichkeit des Albums allerdings in subtileren musikalischen Texturen. "Hija" friert mit hochgepitchten Vocals und akustischen Saiten die Zeit ein, während der experimentelle Cellist Oliver Coates "Esuna" ein Arrangement aus dem Orchester-Äther spendiert. Ganz besonders berührend geraten "Boquifloja", das seine Grunge-Gitarren in diffusem Wohlklang auflöst, und "Xenomorphgirl", die Arca-Version eines Trap-getränkten Dreampop-Songs. Auch dieser "Kick"-Teil findet einen ausdrucksstarken Schlusspunkt, wenn sich aus den Computer-Chören von "Altar" das gleißende "Lost woman found" erhebt, das Ghersis Identitätsfindung als spirituelle und körperliche Bewusstseinsveränderung erfasst: "The first time I felt the sun on my skin / It is my own now." Der eigentliche Closer "Paw" trägt die Stimmung schön weiter, wirkt nach diesem Statement aber fast schon etwas redundant.
Aufs oberflächliche erste Ohr könnten böse Zungen Ähnliches über "kiCK iiiii" behaupten – jenem unangekündigt erschienenen Finale der Reihe, in dem Ghersi weitgehend auf Beats verzichtet und damit ihre eigene Definition von Ambient konturiert. Kontemplative Klavier-Hypnosen wie "Ether" oder "La infinita" umgarnen die Spieluhrmelodie von "Pu", die gefühlvoll gesungene Ballade "Tierno" und das Cembalo-und-Streicher-Duett "Estrogen". Doch bei Ghersis kompositorischer Meisterschaft ist die Platte weit mehr als nur Bonus, gerade in ihren Bruchmomenten. Mit einem Spoken-Word-Part des japanischen Electro-Pioniers Ryuichi Sakamoto brodelt "Sanctuary" unheilvoll, "Músculos" bringt die destruktive Percussion zurück und "Amrep" versinkt immer tiefer im Noise. Das ebenso grandiose "Fireprayer" trifft mit harfenähnlichen Arpeggios den Sweet Spot zwischen Schönheit und sanfter Beunruhigung, kippt kurz in ein schwungvolles Solo-Piano und nimmt dann den Faden wieder auf, als sei nichts gewesen.
Mit dem titelgebenden "Kick" sei laut Ghersi der Tritt eines Fötus im Babybauch gemeint, das erste Anzeichen dafür, dass das von den Eltern erschaffene Wesen ein freies Eigenleben entwickeln wird. "How could she flip it all upside down?", fragt das glorreiche "Crown", der Abschlusstrack von "iiiii" und damit der gesamten Reihe. Dass nicht jede dieser 148 Minuten – respektive über drei Stunden, wenn man den ersten Teil dazurechnet – die gleiche Qualität hält, war hier nie der Anspruch. Ghersi hat vielmehr einen künstlerischen Individuationsprozess in Echtzeit geschaffen, welcher der Gleichzeitigkeit und teilweisen Widersprüchlichkeit ihres multiplen Profils Rechnung trägt und auf formal radikale Weise zeigt, was vielbeachteter Art-Pop im Jahr 2021 zu leisten vermag. Wollten wir dem Rest des Universums zeigen, wie weit unsere Musik ist, wären die "Kick"-Alben ein guter erster Anhaltspunkt. Doch die Aliens hören Arca wahrscheinlich sowieso schon längst.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Prada
- Luna llena
- Bruja
- Incendio
- Joya
- Xenomorphgirl
- Queer (feat. Planningtorock)
- Boquifloja
- Amrep
- Fireprayer
- Crown
Tracklist
- Part 1
- Doña
- Prada
- Rakata
- Tiro
- Luna llena
- Lethargy
- Araña
- Femme
- Muñecas
- Confianza
- Born yesterday (feat. Sia)
- Andro
- Part 2
- Bruja
- Incendio
- Morbo
- Fiera
- Skullqueen
- Electra Rex
- Ripples
- Rubberneck
- Señorita
- My 2
- Intimate flesh
- Joya
- Part 3
- Whoresong
- Esuna (feat. Oliver Coates)
- Xenomorphgirl
- Queer (feat. Planningtorock)
- Witch (feat. No Bra)
- Hija
- Boquifloja
- Alien inside (feat. Shirley Manson)
- Altar
- Lost woman found
- Paw
- Part 4
- In the face
- Pu
- Chiquito
- Estrogen
- Ether
- Amrep
- Sanctuary (feat. Ryuichi Sakamoto)
- Tierno
- Músculos
- La infinita
- Fireprayer
- Crown
Im Forum kommentieren
Affengitarre
2021-12-21 12:01:44
Ja, da schließe ich mich an, tolle Rezension. Muss mich noch ein wenig Durchhören, aber der bisherige Eindruck ist sehr gut. Ich mochte aber auch die erste "Kick".
The MACHINA of God
2021-12-21 10:31:28
Schöne Rezension. Arbeite mich so langsam durch die Alben. Heute ist die 4 dran.
fakeboy
2021-12-20 22:19:01
Musik die ich wirklich rein gar nicht verstehe...
Armin
2021-12-20 20:24:45- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
Meinungen?
fakeboy
2021-12-14 14:23:27
Musik die ich wirklich rein gar nicht verstehe...
Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.
Referenzen
Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv
Threads im Forum
- Arca (1 Beiträge / Letzter am 04.08.2017 - 12:37 Uhr)