David Bowie - Toy
Parlophone / WarnerVÖ: 26.11.2021
Thru' this architect's eyes
David Bowie im Jahr 2000: Selbstverständlich ist er eine lebende Legende, auch wenn die letzten beiden Jahrzehnte nicht für alle zu seinen besten zählen. Gerade im Jahr zuvor hat er nach erfolgreichen Experimenten mit "Hours..." eine seiner gewöhnlichsten und auch schwächsten Platten veröffentlicht. Eine, die eben nicht nach neuen Spielwiesen sucht, sondern sich mit dem zufrieden gibt, was schon einmal da war. Da könnte man sich doch gleich direkt an der Vergangenheit bedienen – nicht nur in dem Sinne, dass Bowies Haarpracht zu jener Zeit so lang ist wie seit knapp drei Jahrzehnten zuvor nicht mehr. Warum nicht gleich zurück zu ...
David Robert Jones im Jahr 1968: Ein Musiker, dessen kurze Karriere ein Dokument des Scheiterns ist. Als Davy Jones durchläuft er erfolglos für mehrere Jahre ein paar Backingbands, probiert sich an Rock'n'Roll, Beatles-Imitationen und irritierenden Charakterstudien. Sein Debütalbum unter dem neu angenommenen Alias David Bowie 1967 floppt, seine Plattenfirma weist in der Folge eine Single nach der anderen zurück, obwohl darunter gar nicht mal schlechte Songs wie "Let me sleep beside you" und "In the heat of the morning" sind. Bowie wird zurückgeworfen – und schreibt kurz darauf ein Lied über einen verlorenen Astronauten im Dialog mit der Bodenstation. Er nennt es "Space oddity". Der Rest ist Geschichte.
Rund drei Jahrzehnte später, kurz nach der Jahrtausendwende, nimmt Bowie das Projekt "Toy" auf: Neuinterpretationen von Songs seiner ganz frühen Phase, gemischt mit ein paar frischen Kompositionen. "Can't help thinking about me" heißt nicht umsonst ein Titel. Ist es späte Rache oder altersmilde Besinnung auf eine lange ignorierte und fast verleugnete Ära? Egal – das Album wird nicht veröffentlicht, letztlich führt es Bowie aber zurück in die Spur zu "Heathen" und "Reality". Ein paar Stücke werden "Heathen"-Albumtracks und B-Seiten, 2011 findet sich plötzlich ein Leak im Internet mit 14 Songs der angedachten "Toy"-Platte. 2021 wird das Ganze nun offiziell ausgebuddelt: 12 Stücke sind es, als Teil des Boxsets "Brilliant adventure (1992-2001)", welches die umfassende Karriere-Rückschau als fünfter Part fortsetzt, oder als dedizierte "Toy:box", welche am 7. Januar 2022 als dreiteiliges Set erscheint. (Zu deren Bonusmaterial später mehr.)
Im Kern steht das Dutzend Songs, welches ursprünglich zumeist aus der Prä-"Space oddity"-Zeit stammt. Völlig neu ist lediglich der abschließende Titeltrack. Die elegische Ballade "Shadow man" erblickte derweil als ursprüngliche "Ziggy Stardust"-Demo auf "Nothing has changed" zuerst das Licht der Welt, während die Demo zu "Hole in the ground" für "Conversation piece" bereits aus dem Archiv gezerrt wurde. Im Fokus stehen die frühen Bowie-Singles, die oft Ausdruck jugendlichen Überschwangs und Reflektionen seiner eigenen Suche sind. "Toy" ist jedoch keine (für 2000) zeitgemäße Überführung des Materials, der Rock, welcher oft ins Orchestrale kippt, war schon damals aus der Mode und wirkt heute im Kontext des Bowie-Werks einfach zeitlos. Hier gibt es keinen konzeptionellen Überbau: "Toy" wirkt stattdessen erfrischt und befreit.
"You've got a habit of leaving" wird zum straighten Rocker umfunktioniert, der sich kurz vor Ende noch zu einer schmissigen Coda herumreißen lässt. Ähnlich launig nach vorne gehen "Let me sleep beside you" und "Can't stop thinking about me", während das eröffnende "I dig everything" mit seinem schleppenden Aufbau bereits das Lowlight der Platte darstellt. Das 1969 entstandene "Conversation piece", erst später als B-Seite verschenkt, ist dagegen ein melancholischer Ruhepol mit wundervoller Lyrik: "While the light that shines above the grocer's store / Investigates my face so rudely / And my essays lying scattered on the floor / Fulfill their needs just by being there." Darauf folgt mit "Shadow man" der emotionale Kern als raumgreifende Ballade mit Dramatik. Kitsch konnte Bowie schon immer, egal in welchem Jahrzehnt.
Die beiden stärksten Stücke stehen in diesem Sequencing am Ende. "Silly boy blue", neben "Karma man" die zweite empathische Betrachtung des Buddhismus, war bereits auf dem selbstbetitelten Debüt das klare Highlight und dreht zur Mitte hin mit der gesamten Orchester-Power auf. "Toy (Your turn to drive)" ist wiederum ein atmosphärisch perlender Song, dessen wunderschöne Klavierläufe noch lange, lange nachhallen. Merkwürdigerweise fällt das Wort "toy", das Bowie seltsam häufig in seinen Texten unterbringt, hier nicht. "She fools around with other boys and treat me like an unwanted toy", lamentiert er stattdessen weiter vorne. "Place your ragged doll with all the toys and things and deeds", fordert er woanders. Ein Song wie "Come and buy my toys" ist nicht einmal in diesem Reigen dabei. Der frühe Bowie hatte zumindest diesen einen roten Faden.
Auf der "Toy:box" finden sich neben dem Hauptalbum und dem wirklich grottenhässlichen Cover in größerem Format noch zwei – leider recht überflüssige – Bonus-Discs. Die erste enthält zum Großteil alternative Mixe, die meist zu ähnlich sind, um Daseinsberechtigung zu haben. Interessanter schon, dass mit "Liza Jane", Bowies Debüt-Single, und "In the heat of the morning" zwei weitere Neuinterpretationen dabei sind – die allerdings so lahm sind, dass sie aus gutem Grund nicht auf der eigentlichen Platte stattfinden. Die dritte Scheibe enthält "Unplugged & somewhat slightly electric mixes": größtenteils akustische Fassungen, welche das Geld wirklich nicht wert sind. Besser also, "Toy" als gelungenen Abschluss der Neunziger-Phase in "Brilliant adventure" zu hören. Mit einem Bowie, der sich auf sich selbst zurückbesinnt und dabei seine zukünftigen Verkleidungen findet.
Highlights & Tracklist
Highlights
- The London boys
- Conversation piece
- Silly boy blue
- Toy (Your turn to drive)
Tracklist
- I dig everything
- You've got a habit of leaving
- The London boys
- Karma man
- Conversation piece
- Shadow man
- Let me sleep beside you
- Hole in the ground
- Baby loves that way
- Can't help thinking about me
- Silly boy blue
- Toy (Your turn to drive)
Im Forum kommentieren
ijb
2022-01-11 14:45:22
Ach ja, es gibt eine sehr schöne frühere Version von "Uncle Floyd" (später zu "Slip Away" auf dem Album "Heathen" geworden), die 2011 in der "Leaked Version" enthalten war. Die fehlt in der neuen "Toy Box"...
ijb
2022-01-11 14:43:18
Ich kenne die meisten Aufnahmen schon länger (durch den "Leak" vor ca. zehn Jahren) und habe es immer ganz gern gehört. In der Summe ist "Toy" im Wesentlichen zwar eher Fanveranstaltung, da es einfach eine nette, mit viel Spaß an der Freude eingespielte Liedersammlung ist und für Gelegenheits-Bowiehörer vielleicht doch recht schnell langweilig wird. Die 7/10-Wertung ist daher gut getroffen.
Einige richtig starke Interpretationen sind aber dabei, z.B. "Conversation Piece" oder "Shadow Man" (beide kannte man allerdings auch schon 2002 als B-Seiten von "Heathen"-Singles – Felix' Anmerkungen in der Rezension sind hier ein wenig ungenau).
"Silly boy blue" finde ich auch sehr gut, und die etwas schmissigeren Nummern kann man auch gut hören, auch wenn sie keine Höhepunkte im Bowie-Werk sind.
Es gibt aber gerade einen neuen Podcast in der "Album to Album"-Reihe, mit Mark Plati und Sterling Campbell: https://play.acast.com/s/davidbowie-albumtoalbum
Lohnt sind; man erfährt etwas mehr über die Entstehung (sofern man nicht schon den umfassenden Bericht in UNCUT gelesen hat), u.a. wie Bowie das Album eben keineswegs als wichtiges Projekt, sondern als spaßige Nebensache betrachtet hat.
Wo Felix' Rezension Recht hat, ist dass die beiden "Bonus-CDs" leider nicht nur ziemlich überflüssig, sondern fast schon ärgerlich sind - bei dem Preis von 30€; da bekommt man drei man die gleichen Songs z.T. geringfügig anders abgemischt, dass man sie wirklich nur als Fan, der die "Albumversionen" x-mal gehört hat, unterscheiden kann. Die dritte CD mit den Gitarren-Versionen ist nett, aber auch überflüssig. In der "Brilliant Adventures"-Box wär das nachvollziehbar gewesen, aber als eigenständige Veröffentlichung ist das reine Geldmacherei. Ich hab aber ohnehin einiges an der "Brilliant Adventures" zu kritisieren. Es fehlt zu vieles, sogar interessante posthume Veröffentlichungen wie diese mit Neuaufnahmen von 1997:
https://en.wikipedia.org/wiki/Is_It_Any_Wonder%3F_(EP)
oder dieses feine "One-off"-Konzert von 1996:
https://www.discogs.com/de/release/15832503-David-Bowie-Changesnowbowie
Beide wurden in sehr limitierten Editionen veröffentlicht.
embele
2022-01-11 12:37:26
@fuzzmyass
Das Format ist wirklich blöde. Ich habe mir die 12 inch gekauft, welche natürlich auch nur in der sündhaft teuren Box erhältlich ist. Ebay...Glück gehabt, dass sie jemand einzeln verkauft.
Platte gefällt mir aber richtig gut. Das Fanherz schlägt Purzelbäume...
Kojiro
2022-01-10 18:58:45
Ich hab's heute einmal nebenbei gehört und fand's weitgehend ganz ordentlich. ggf. hole ich mir sogar die 10"-Vinyl-Version, sofern es mir nach 2-3-4 Durchgängen besser gefallen sollte.
fuzzmyass
2022-01-10 16:20:58
Meinungen hierzu? Habe es noch nicht gehört, überlege es mir auf CD zu holen - bei Vinyl stört mich das Format (6 Singles) und der Preis
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