Gewalt - Paradies

Clouds Hill / Warner
VÖ: 05.11.2021
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
5/10

Lektionen in Übermut

Unter einer gewissen Gott-Rhetorik macht Patrick Wagner es einfach nicht: Der selbsternannte "Papst des Scheiterns" hat so viele Bands und Labels in den Sand gesetzt, wie es andere nur in zwei Leben hinbekämen. Auf den "FuckUp Nights" berichtet er sehr gerne darüber: Der Wahl- und trotzdem komischerweise irgendwie Ur-Berliner ist der Inbegriff des Kaputten, ein Mensch gewordener zerbrochener Lebenstraum. Im Geiste der Noise-Legende Surrogat, die Wagner einst frontete, ist das Trio Gewalt nun ein letztes Aufbäumen vor dem Exodus, ein Ventil, um der Welt noch einmal den Mittelfinger zu zeigen – mit aller Wucht, die geht. Dabei ist der Teilzeit-Fußballtrainer eigentlich ein lieber Kerl, seine Kunst aber sucht die maximale Konfrontation: "Paradies" ist ein Rundumschlag aus sechs Jahren Gewalt, ein Doppelalbum, das die zahlreichen Singles auf der einen Seite und zehn extra fürs Langspieldebüt geschriebene Songs auf der anderen vereint. Die Isolation-Berlin-Strategie also, bloß auf einen Streich. Bescheidenheit geht anders. Irrelevanz auch.

Egal, auf welcher der beiden LPs: Der Drum-Computer als tatsächlich offiziell viertes Bandmitglied spuckt Salven aus wie ein Maschinengewehr, die Gitarren dazu klingen wahlweise wie Schmirgelpapier, zerschmissenes Geschirr oder wie fiese Fingernägel auf der Schultafel. "Wir sind mechanisch" eben, wie die Band in "Manchmal wage ich mich unter Leute" treffend feststellt. "Es funktioniert" als Vorbote oder vielmehr -warnung vereint eine donnernde Bassspur mit den charakteristischen, sloganhaft-repetitiven Vocals des Frontmanns, der sich einem wahnsinnigen Prediger gleich all des Elends annimmt, das ihn umgibt. "Ein täglich neuer Weltuntergang / Solide finanziert." Dieses Abgehackte zieht sich als roter Faden durch sämtliche Schaffensphasen – ob die Neukomposition "Gier" nun die Frage beantwortet, wie denn Joy Division klängen, wenn sie sich in die Neue Deutsche Härte verlaufen hätten, oder ein moderner Klassiker wie "Deutsch" den Almans dieser verrotteten Gesellschaft den zerbrochenen Spiegel vorhält, damit diese sich auf ihre "verfickten Seelen" besinnen.

Das brennt, das bebt und irritiert: "Jahrhundertfick" beschwört zu jazzigen Drums einen lüsternen Falco, der mit der Bohrmaschine zum Schäferstündchen kommt. Der Titeltrack entwirft lyrisch und musikalisch einen semi-legalen Untergrund-Rave in der Tiefgarage unter dem Goldmann-Sachs-Hauptquartier, aber mit reingeschmuggelten Berliner Drogen. Es sind Bilder wie diese, die unter die Haut gehen, dabei immer assoziativ bleiben, und von denen hier nur manche vorgestellt werden sollen – denn das Ausmaß des ganzen Wahnsinns ist nur schwer zu fassen oder gar zu beschreiben. Wagners "Paradies" reicht von Poesie wie "Wir warten auf die Liebe" bis hin zu "Ich rieche süßlich nach Eiter und Pisse", von stumpfem Geballer bis zu hochintensiven Post-Rock-Übungen wie "Wir sind sicher". Was alle 21 Stücke vereint: die Abneigung, das Sezieren von Missständen, der Unmut darüber. So schonungslos wie Wagner stellen die wenigsten Künstler klar, was sie eigentlich antreibt. "Du musst dich vollständig abtöten", lautet dessen charmanter Ratschlag an all diejenigen, die ihm zuhören.

Gewalt sind die Neue Deutsche Brutalität, ob in ihrer inhaltlichen Misanthropie oder dem Techno-Industrial-Cold-Wave-Noise-Post-Irgendwas-Bastard, den sie ohne Rücksicht auf Verluste auf die Menschheit loslassen. Hätte man von dem Enfant terrible an ihrer Spitze auch anderes erwartet? Für Wagners Jünger, die seinen Hass teilen, gibt es "Paradies" sogar zum Lesen, denn zeitgleich veröffentlicht der Maestro seinen gleichnamigen Debütroman. Diejenigen, die Gewalt eher mit Baustellenlärm assoziieren und seine Attitüde befremdlich finden, sollten sich in Acht nehmen: Denn im neuesten Kapitel seiner "Musikkarriere aus Versehen" pflanzt Patrick Wagner, seiner Berufung folgend, ein kleines, verdorbenes Pflänzchen mitten in die Gesellschaft, auf dass es gedeihe und von dort aus seine nihilistische Wahrheit überall hin verbreite. Möge ihm damit auch endlich einmal nachhaltiger Erfolg beschieden sein.

(Ralf Hoff)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Jahrhundertfick
  • Paradies
  • Manchmal wage ich mich unter Leute
  • Deutsch
  • Kein Mensch
  • Guter Junge, böser Junge
  • Wir sind sicher

Tracklist

  • Part 1
    1. Gier
    2. Es funktioniert
    3. Unterwerfung
    4. Stirb es gleich
    5. Jahrhundertfick
    6. Paradies
    7. Manchmal wage ich mich unter Leute
    8. Die Wand
    9. Stumpfer werden
    10. 3:35 Uhr
  • Part 2
    1. Deutsch
    2. Nichts in mir ist einer Liebe wert
    3. Pawlow
    4. Kein Mensch
    5. Guter Junge, böser Junge
    6. Wir sind sicher
    7. So geht die Geschichte
    8. Tier
    9. So soll es sein
    10. Pandora
    11. Szene einer Ehe
Gesamtspielzeit: 89:08 min

Im Forum kommentieren

Cayit

2021-11-19 10:24:22

Hört sich gut an !

myx

2021-11-13 17:42:04

Schon ganz gut, aber auf Albumlänge dann doch nichts für mich (bei "Paradies" bin ich ausgestiegen).

Lukin

2021-11-13 14:36:58

Mega Album. Kein Plan, warum es hier so wenig Reaktionen hervorruft. Für mich ein Kandidat Auf das Album des Jahres

Schwarznick

2021-11-05 14:20:41

ich bin gegen jegliche art von gewalt

Ponchononcho

2021-11-05 13:39:29

Nichts.

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