Lana Del Rey - Blue banisters

Urban / Universal
VÖ: 22.10.2021
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
5/10

Diss wo ich herkomm'

Es gibt eine Theorie, nach der sich die sechs Lana-Del-Rey-Alben ab "Born to die" zu Trilogien zusammenfassen lassen. Der erste Part sei immer einer mit großen Hits, aber auch durchwachsenen Füllern, eine Peak-and-Valley-Sache. So sei's geschehen auf ebenjenem "Born to die" und "Lust for life". In der Mitte stünden dann die wahren Meisterwerke wie "Ultraviolence" und "Norman fucking Rockwell!", welche die Hits mit einem großen gespannten Bogen versehen. Und als Ausklang gebe es schließlich ein Album, das in sich geschlossen ist, oberflächlich gar langweilig wirke. "Honeymoon" und "Chemtrails over the country club" sind in der Tat nicht die großen Publikumslieblinge und bieten wohl das wenigste Futter für die Lana-Del-Rey-Best-Of, die womöglich eines Tages kommen wird, um zu enden alle Best-Ofs. "Blue banisters" müsste dem Gesetz der Serie nun wieder die Knaller bringen, in sich aber zerrissen auftreten. Hier fällt die schöne Theorie allerdings flach – zum Glück.

"Blue banisters" ist Del Reys zweite Platte aus 2021 und setzt rein oberflächlich den reduzierten Ansatz von "Chemtrails over the country club" fort. Laufen diese 15 Songs nebenher, bemerkt man sie oft gar nicht. Die Kompositionen erfordern genaues Hinhören, um die meist auf Klavier und wenige weitere Zutaten eingedampften Stücke wahrzunehmen. Und ihre Größe zu erkennen. Denn was Del Rey hier an Melodien auffährt, lässt den Vorgänger als Aufwärmübung dastehen. Der Titeltrack bleibt ultrazart, teilweise werden die Worte nicht nur gehaucht, sondern geflüstert, als ob der Vortrag ein Balanceakt wäre und die Harmonie allzu flüchtig. "Beautiful" braucht wirklich nur das Piano und Del Rey am Mikro um selbstbewusst festzustellen: "What if someone had asked Picasso not to be sad? / [...] / I can turn blue into something beautiful."

Das scheint auf "Blue banisters" ihr Mission Statement zu sein: den Songs einen schönen Kern zu geben, um ihnen in aller Subtilität ein Bein zu stellen. Wie "Black bathing suit" im Refrain in perkussives Chaos ausbricht, um seine eigene Erhabenheit zu dekonstruieren, ist schon überraschend. Ebenso der Fakt, dass nicht nur hier, sondern auch im fantastischen Opener "Text book" gerne mal Tempo und Takt gewechselt werden, ohne dass die Atmosphäre davon irgendeinen Schaden nimmt. "Wildflower wildfire" traut sich gar, einen Beat gen Ende scharfzustellen (und leider wie an anderen Stellen unschönes Clipping in den Mix zu geben). Was derweil in "Thunder" passiert, ist sowieso kaum zu beschreiben. Es ist einer dieser Songs wie zuvor "Video games" oder "Mariners apartment complex" – wie ein Instant-Klassiker, den man gefühlt schon Jahrzehnte kennt. Wir verstehen uns spätestens, wenn der Gospelchor alles klarmacht.

Schon auf "Chemtrails over the country club" öffnete sich Del Rey persönlicher, auch wenn nie klar war, wie viel davon Kunstfigur war. "Blue banisters" treibt das Ganze noch weiter und legt ihr lyrisches Talent dabei vollends offen. Gleich die ersten beiden Songs erzählen von ihrem Vater und ihrer Schwester sowie davon, wie ihr selbst vor der eigenen Sackgasse in der "Lolita"-Rolle schwindlig wurde: "She said 'You can't be a muse and be happy, too / You can't blacken the pages with Russian poetry and be happy' / And that scared me." Ihrer Schwester Chuck Grant ist auch der herzberührende Closer "Sweet Carolina" gewidmet, in dem Del Rey scheinbar jede Barriere fallen lässt, wenn sie einmal mehr in Anlehnung an den ollen Elton singt: "If things ever go wrong / Just know that this is your song / And we love you."

Dass die 36-Jährige dabei ihre Ambivalenz keinesfalls aufgeben möchte, zeigt ihr trockener Humor im selben Stück. "You name your baby Lilac Heaven / After your iPhone 11 / 'Crypto forever', screams your stupid boyfriend / Fuck you, Kevin." Weder das Kind noch der Partner heißen so und Kollege Holtmann streitet auch jegliche Beteiligung ab. So etwas macht Del Rey eben doch weiterhin ungreifbar, selbst wenn sie in "Cherry blossom" eine Ode an ihr ungeborenes Kind formuliert oder "Wildflower wildfire" direkt und schonungslos ihre Eltern in die Verantwortung nimmt: "My father never stepped in when his wife would rage at me / So I ended up awkward but sweet / Later then hospitals, stand still on my feet." Kann man einen schlimmeren Burn verpassen, als von der eigenen Mutter als "his wife" zu sprechen?

Natürlich kriegen auch die Männer ihr Fett weg. Zu Owen Palletts Streichern in "Thunder" darf sich jemand über die Widmung "You act like fucking Mr. Brightside when you're with all your friends / But I know what you're like when the party ends" freuen. Die neu perfektionierte Dissbereitschaft macht Spaß, weil Del Rey erstaunlich gut darin ist. Da muss sie nicht einmal "I don't wanna give you nothing!" schreien, auch wenn das zugehörige Miles-Kane-Duett "Dealer" unter anderem dadurch ein interessanter Ausreißer ist; auf "Blue banisters" sowieso, aber ebenfalls in ihrem Gesamtwerk. Das lässig orgelnde Noir-Stück sollte schon auf "Chemtrails over the country club" stattfinden und wurde dann doch runtergeworfen – so erinnert sich zumindest der auf dieser Platte abwesende Jack Antonoff, der seit "Norman fucking Rockwell!" mit Del Rey kollaborierte.

Viele Songs haben sogar noch deutlich ältere Wurzeln. Das Trio "Nectar of the gods", "Living legend" und "Cherry blossom" stammt bereits aus Sessions im Jahr 2013 zu "Ultraviolence". Doch keinesfalls sind diese Stücke von der Resterampe, vielmehr finden sie in diesem fokussierten Kontext wohl erst zu richtiger Form. Man mag "Blue banisters" zunächst vorwerfen, vor allem hinten raus zu viele dieser Klavierballaden anzusammeln, aber die kompositorische Stärke überstimmt am Ende alles. Dann schälen sich Details und Kniffe heraus, wie das von Del Rey mit ihrer Stimme imitierte Gitarrensolo in "Living legend", die gedämpften Trompeten am Ende von "If you lie down with me" oder die Morricone-Hommage im Interlude, dessen "The trio" unverhofft Bekanntschaft mit Trap-Beats macht und sich in den Äther verabschiedet. "Blue banisters" hat unendlich viel mehr zu bieten, als es auf den ersten Blick scheint. Man muss nur hinhören.

(Felix Heinecker)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Text book
  • Blue banisters
  • Thunder
  • Wildflower wildfire
  • Sweet Carolina

Tracklist

  1. Text book
  2. Blue banisters
  3. Arcadia
  4. Interlude – The trio
  5. Black bathing suit
  6. If you lie down with me
  7. Beautiful
  8. Violets for roses
  9. Dealer
  10. Thunder
  11. Wildflower wildfire
  12. Nectar of the gods
  13. Living legend
  14. Cherry blossom
  15. Sweet Carolina
Gesamtspielzeit: 61:53 min

Im Forum kommentieren

The MACHINA of God

2024-12-05 14:05:57

Nix stimmt damit nicht. Hat auch ne 8 von mir bekommen. Finde nur den Rest noch toller als diesen Dreier.

zolk

2024-12-05 14:04:45

Was stimmt den mit "Living legend" nicht? Für mich rangiert der definitiv im oberen Drittel der Songs. Aber gut, das ist natürlich Geschmackssache. Der Song trieft natürlich ein wenig vor Pathos, was sicher nicht jedermanns Sache ist...

The MACHINA of God

2024-12-05 00:30:51

Das Trio "Nectar of the gods", "Living legend" und "Cherry blossom" stammt bereits aus Sessions im Jahr 2013 zu "Ultraviolence".

Das wären genau die drei Songs, auf die ich am allerehesten noch verzichten könnte. Ohne die wäre es wohl eine 9/10, aber auch so nicht so weit davon entfernt.

The MACHINA of God

2024-12-05 00:22:21

So ein wunderschönes Album. Diese Melodien.

Edrol

2024-09-23 21:09:40

Das perfekte Album für den Herbst; da kommt es immer richtig gut.

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Threads im Forum