The War On Drugs - I don't live here anymore
Atlantic / WarnerVÖ: 29.10.2021
Träume erinnern
Grob gesprochen gibt es zwei Arten guter Bands: einmal jene, die von Album zu Album neues Terrain erkunden, ihre ästhetischen Grundpfeiler regelmäßig ins Wanken bringen und dabei doch stets so etwas wie eine charakteristische Handschrift erkennen lassen. Und dann wiederum solche, die penibel und minutiös an ihrem Sound feilen, bis er sich in kleinen Schritten immer stärker dem selbst gesetzten Ideal annähert. The War On Drugs gehören der zweiten Kategorie an und haben in der jüngeren Vergangenheit mit "A deeper understanding" nicht nur bei der Kollegin Depner völlig nachvollziehbare Begeisterungsstürme entfacht. Dabei speist sich die Musik des Sextetts aus Philadelphia aus größtenteils traditionellen Elementen, die auf so tiefgreifende Weise inszeniert werden, dass vor allem eines betont wird: ihre Zeitlosigkeit. Die Lebensklugheit folkiger Americana-Passagen und das soziale Gewissen des Heartland Rock – der eben nie bloß ein geographischer Begriff war – lassen sich erst nach jahrelanger Übung so gekonnt mit einer Produktion verbinden, die zwar nach den Achtzigern klingt, aber zugleich sanfter, nostalgischer, verträumter. Bei aller Melancholie, die Adam Granduciels rauchige Stimme niemals wird ablegen können, durchzieht auch "I don't live here anymore" ein Gefühl von nicht versiegender Hoffnung. Der Kampf mit der eigenen Vergangenheit wird zum Leitmotiv des Albums, der Wunsch, hinter die zugefallenen Türen blicken zu können, seine treibende Kraft.
An zwei prominenten Stellen zitiert Granduciel folgerichtig aus dem Dylan-Klassiker "Simple twist of fate". "Change" handelt von der Unfähigkeit, aus charakterlichen Dispositionen auszubrechen, und wird von einer verschwitzten, verhallten Gitarrenmelodie geprägt, die ewig andauern könnte. Nach drei Minuten entführen prägnante Klavierakkorde den Song in den sentimentalen Himmel, während Granduciel als zaudernder Fatalist auftritt: "Maybe I was born too late for this lonely freedom fight." In zahlreichen Schichten schieben sich Melodiefetzen über- und gegeneinander, werden rein- und rausgeweht, als könnten die Erinnerungen nur peripher ertragen werden. Die Stadion-Rock-Ekstase des Titeltracks hingegen kontrastiert Triumph und Einsamkeit in einer Weise, die Arcade Fire in ihren besten Momenten kaum besser hinbekommen haben. Granduciel verdichtet seine Widersprüche geschickt: "We danced to 'Desolation row' / But I don't live here anymore / But I got no place to go."
Einmal mehr versetzt die Produktion ins Staunen, die so detailverliebt und vielschichtig daherkommt, dass die ausufernden Songs – nur zwei der zehn Stücke dauern deutlich weniger als fünf Minuten – nie an Spannung verlieren. Synthies glitzern durch die Nacht wie die Neonreklame durch Granduciels verschmutzte Frontscheibe, während er Amerikas Schattenseiten reflektiert. "I was born in a pyramid by the old interstate", sinniert er im ruhigen Anfang von "Old skin", seine Stimme ganz nah und unmittelbar: "Shadows are scattered like rings of gold." Auch "Rings around my father's eyes" denkt über den Verlust von Arbeit und Träumen nach, wird zu einer in Reminiszenzen davonschwebenden Ballade, die das Gewicht ihrer Stiefel immer noch spürt. In diesen Momenten scheinen The War On Drugs so bereit wie nie in Bruce Springsteens Fußstapfen treten zu wollen, auch wenn ihr Gestus meist ein wenig entrückter wirkt. Aber schon der langsame Aufbau des Openers "Living proof", der sich über Lagerfeuergitarre und dunkle Klavierakkorde zu einem emotiven Gitarrensolo à la Neil Young aufschwingt, macht klar: Der Selbstaufgabe gilt es etwas entgegenzusetzen.
Dass sich "I don't live here anymore" in all seiner vertrauten Menschlichkeit als ein weiteres Glanzstück in die Diskografie der Band einreiht, wird schnell deutlich, doch setzt es durchaus auch ein paar neue Akzente. Die völlig übersteuerten Gitarrenfetzen und der metronomische Schlagzeugtakt von "Victim" laden zu einem retro-futuristischen Spagat. Und auch das umwerfende "I don't wanna wait" beginnt zunächst ungewohnt: Über einem schleppenden, elektronischen Beat und einer widerständig rückkoppelnden Gitarre materialisiert sich langsam seine Akkordfolge, bis im zweiten Teil härter rockende Gitarren und eine hymnische Hook mit hochgereckten Fäusten das ganze Heilsversprechen des Rock erneuern. Denn insgeheim ging es The War On Drugs schon immer darum, die Vereinzelung zu überwinden, und dabei ist Pathos ab und an als probates Hilfsmittel gestattet. Granduciels Botschaft im Closer "Occasional rain" lässt sich also durchaus programmatisch verstehen. Durch die sanfte Schwermut flirrender Gitarren singt er von einem Ort, an dem die Zweifel nicht mehr bloß die eigenen sind: "Your words bring me towards steady ground."
Highlights & Tracklist
Highlights
- Change
- I don't wanna wait
- Old skin
- Occasional rain
Tracklist
- Living proof
- Harmonia's dream
- Change
- I don't wanna wait
- Victim
- I don't live here anymore
- Old skin
- Wasted
- Rings around my father's eyes
- Occasional rain
Im Forum kommentieren
Hoschi
2022-09-27 13:42:29
Also in ihrer Leidensphase sind Songwriter immer am besten(Bob Dylan- Blood on the tracks, War in drugs -LitD).
Die " mir geht's eigentlich ganz gut" Phase des Herren Granduciel stößt mir leider nachwievor etwas auf.
Herr
2022-09-27 13:31:51
Oh Oh Obacht, wenn es darum geht, dass Bands Ihre Geschichte auserzählt haben....
Zumindest sind die Seriensstaffeln des Granduciel noch kein x-tes Reboot.
nörtz
2022-09-27 13:31:49
:D
Hierkannmanparken
2022-09-27 13:02:14
Für mich verliert die Band langsam, aber sicher ihren Reiz.
Die Geschichte um Granduciel ist ja auch irgendwie auserzählt.
Ach, was bin ich am leiden (LITD) --> Ich setz mich mal damit auseinander (ADU) --> Jetzt geht's mir eigentlich ganz gut (IDLHA)
Kai
2022-09-26 16:52:53
Bekommt man mit einer "Delux-Edition" als 7" auch auf Vinyl. Der Preis dieser Edition ist aber noch einmal frecher als der ohnehin schon hohe Preis des Albums.
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