Moritz Krämer - Die traurigen Hummer
Tapete / IndigoVÖ: 01.10.2021
Nuschelliteratur
Als Bob Dylan 2016 den Nobelpreis für Literatur gewann, setzte eine muntere Diskussion über den Sinn oder Unsinn dieser Entscheidung ein. Ein Musiker erhält die höchstmögliche Auszeichnung in der Welt des geschriebenen Wortes? Das war mindestens ungewöhnlich. Spinnt man die Idee ein wenig weiter und denkt über deutschsprachige Interpretinnen und Interpreten nach, die für einen Literaturpreis infrage kommen, dann dürften rasch Namen wie Gisbert zu Knyphausen, Niels Frevert oder Sven Regener fallen. Wobei: Regener? Der stellt ohnehin einen Sonderfall dar, denn abseits seines anerkannt fulminanten musikalischen Outputs hat er sich über die Jahre auch einen Ruf als exzellenter Schriftsteller erworben. Neben einigen anderen mehr darf einer nicht vergessen werden: Moritz Krämer. Der legt mit "Die traurigen Hummer" sein drittes Soloalbum vor und begeistert darauf nicht nur mit wunderbaren Songs, sondern eben auch mit herausragenden Texten.
Krämer, normalerweise als Mitglied von Die Höchste Eisenbahn künstlerisch ordentlich ausgelastet, hatte 2011 mit "Wir können nix dafür" ein entzückendes Debüt veröffentlicht und 2019 sein Doppelalbum "Ich hab' einen Vertrag unterschrieben 1 & 2" folgen lassen. Während 2011 der Funke sofort übersprang, benötigte sein Werk von 2019 einige Durchläufe, um zu zünden. 2021 macht Krämer es der geneigten Hörerschaft wieder einfacher: Die zehn Songs gehen sofort ins Ohr, machen es sich dort gemütlich und gehen auch so schnell nicht mehr fort. Über die Spieldauer von rund 40 Minuten ist es dabei insbesondere dieser charakteristische Tonfall, der den Sänger einzigartig macht und einen Zeile für Zeile, Strophe für Strophe tiefer hineinzieht in diese ursympathische Form der musikalischen Darbietung. In der Wörter sich immer mal wieder soaneinanderschmiegendasssieganzohneleerzeichen gesungen, nein: weggenuschelt werden. Denn eben das kann Krämer wie fast kein Zweiter: Nuschelliteratur.
Inhaltlich macht der gebürtige Schweizer, der in Berlin lebt, Ausflüge in allzu menschliche Bereiche des Daseins, parliert über Versagensängste ("Auffliegen"), den lieben Nachwuchs ("Finster") oder die Flucht aus der Stadt ("Jetzt"). Und immer wieder sind da feine und feinsinnige Texte wie im Auftaktstück "Nackt und einsam", in dem er singt: "Deine Synapsen sind träge / Und du lachst ohne Grund / wenn das deine Krankheit sein soll / werd bitte nie mehr gesund, nie wieder." Klare Gedanken, diffuse Ängste, Zweifel und Hoffnungen: Mitten aus dem Leben, das selten nur direkte Verbindungen kennt, kommen Krämers Geschichten, denen stets eine sanfte Melancholie innewohnt. Ein Glücksfall für den zurückhaltend auftretenden Sänger ist übrigens die Band, die er für das Album um sich herum gruppiert hat, denn Hanno Stick am Schlagzeug, Alex Binder am Bass und Andi Fins an den Tasten setzen die Ideen Krämers pointiert und pfiffig um. Weitere Gastmusiker fügen sich souverän ein, auch das Duett mit Larissa Pesch in "Schwarzes Licht" reiht sich nahtlos ein in diesen starken Songreigen.
Krämer hat mit der Band Die Höchste Eisenbahn grundsätzlich eine musikalische Heimat gefunden, die zu ihm und seinen Stärken uneingeschränkt passt. Auch dort stimmt die Mischung aus Ideen, Texten und künstlerischer Freiheit, und doch ist sein Solo-Schaffen mindestens genauso wertvoll. Denn dieser Mann, der so offenkundig ungerne im Mittelpunkt steht, hat mit seiner Klasse das Rampenlicht überaus verdient. Auch, wenn er wohl ohne Literaturpreis wird leben müssen.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Nackt und einsam
- Schwarzes Licht
- Jetzt
Tracklist
- Nackt und einsam
- Die traurigen Hummer
- Auffliegen
- Austauschbar
- Schwarzes Licht
- Verlieren
- Beweisen
- Finster
- Rhythmus
- Jetzt
Im Forum kommentieren
hos
2021-10-13 22:23:24
ich könnt mir vorstellen, dass die mucke in der passenden location richtig gut zur wirkung kommt.
innem hospiz zb.
Obrac
2021-10-13 22:15:22
Ich finde den einfach unhörbar.
Armin
2021-10-13 21:42:43- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
Meinungen?
maxlivno
2021-10-05 18:52:33
Das Album klingt nicht so egal wie die zwei "Vertrag"-Alben, aber mir fehlen die Emotionen und die Raffinesse, die "Wir können nix dafür" besitzt. Das selbe Problem hatte ich schon mit der letzten Eisenbahn Platte: Zu viel Zucker und Gleichklang
01.Nackt & Einsam 7.5
02.Die traurigen Hummer 7
03.Auffliegen 5
04.Austauschbar 6
05.Schwarzes Licht 8
06.Verlieren 6
07.Beweisen 8
08.Finster 7
09.Rhythmus 6
10.Jetzt 6
Grizzly Adams
2021-08-14 14:32:19
Er klingt wieder positiver - im Sinne von engagierter - als auf seinem letzten Solowerk. Scheint wieder mit mehr Spaß dabei zu sein. Auch auf dieses Album bin ich gespannt. Seine Art zu singen ist ohnehin einzigartig. Das muss man schon mögen.
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