Die Ärzte - Dunkel

Hot Action / Universal
VÖ: 24.09.2021
Unsere Bewertung: 6/10
6/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Von mir aus auch mal nicht am besten

Man könnte "Dunkel" schon als eine Art Spielverderber sehen. Nicht nur, dass es den doppeldeutigen Titel "Hell" des Vorgängeralbums, aus dessen Sessions rund die Hälfte des Material stammt, in eine eindeutige Richtung auflöst. Auch dessen gewohnt mehrschichtiger Humor findet sich in den neuen 19 Songs in überraschend geringen Dosen. Dabei ließen die fulminant albernen B-Seiten "Auserzählt" und "Dobly" darauf hoffen, dass das Trio keinesfalls sein Pulver mit dem letztjährigen Comeback verschossen hatte. "Dunkel" gibt sich jedoch zunächst seltsam, erinnert an Werke wie "Jazz ist anders" oder Farin Urlaubs Soloalbum "Am Ende der Sonne", welche einen deutlich ernsteren Unterton mit sich brachten – und sich letztlich als grandios entpuppten. Das lag jedoch auch an den Karriere-Highlights, die dort wie auf fast jedem Die-Ärzte-Werk zu finden waren. In der Hinsicht ist "Dunkel" leider auf einer Linie mit dem wenig geliebten "Auch": Die ganz, ganz großen Knaller glänzen durch Abwesenheit.

Damit gehört es in jedem Fall zu den schwächsten Alben der Band, was nicht heißt, dass es nichts für sich sprechen lässt. Überraschenderweise funktioniert "Dunkel" vor allem sehr gut über die Musik. Eine satte, basslastige Produktion, gewohnte Stilvielfalt und mitreißende Riffs, die live für den im "KFM" formulierten Anspruch sorgen dürften: "Wir sagen: 'Spring', und du fragst: 'Wie hoch?'" Viele Songs besinnen sich aufs Rocken, die scharfen Gitarren in "Kraft" sind gar Idles und Viagra Boys nachempfunden, in die Farin Urlaub sich nach einer Empfehlung von Bela B. hineinhörte. Der blonde Vielschreiber nutzt vor allem gegen Ende der Platte zudem die Macht der Streicher und nähert sich mit Pathos in "Besser" und "Erhaben" Britpop-Größen an. Bela entdeckt derweil für "Schweigen" den Synthpop für sich und schreibt mit "Doof" eine sonnengetränkte Ska-Nummer, die man sonst eher auf einem Farin-Soloalbum vermutet hätte. Rod steuert wie auf "Hell" nur einen Song bei – rein musikalisch füllt "Schrei" mit satten Tonspuren den Raum.

Die Ärzte funktionieren jedoch mindestens genauso sehr über die Texte und an dieser Stelle schwächelt "Dunkel" teils spürbar. Dass "Wissen" eher zur 08/15-Breakup-Tirade gerät, kann man hinnehmen, auch dass Farins "Anti" nur der agressiven Beschallung zweckdienlich vor sich hin schimpft. An vielen Stellen wollen Die Ärzte wie so oft politische und gesellschaftliche Statements setzen, dort geraten die Lines jedoch überraschend plump. "Nazis bleiben Nazis, weil sie Nazis sein wollen / Und meine Oma hat den den Grund dafür gekannt / Doof bleibt doof." Die Aussage sei gelobt, aber "Doof" macht seinem Titel in der Ausführung leider alle Ehre. Der Closer "Our bass player hates this song" trägt den Namen zudem nicht von ungefähr. Rodrigo Gonzáles stimmte gegen die Aufnahme dieses kleinen Lehrstücks und man möchte ihm anhand dieser Zeilen Recht geben: "Und falls Du Dich jetzt fragst, wie man die Welt verbessern kann / Wie wär's mit wählen gehen / Dein Kreuz gegen Hakenkreuze, damit fängt es an." Der Song brettert wunderbar, aber was soll dieser Zeigefinger-Gestus? Da hatte einst "Deine Schuld" noch mehr Wumms in der Message, auch wenn "Dunkel" zwei Tage vor einer Bundestagswahl sicher ein gewisses Timing mitbringt.

Wenn die Themen leichter werden, funktionieren die Stücke viel besser. Mit "Tristesse" bringt Herr Urlaub einen würdigen, lässigen Nachfolger zu "True romance" auf den Weg und landet nicht nur mit der Zeile "Ich habe keine Freunde, ich wüsste nicht warum / Man leidet einsam besser als vor Laienpublikum" einen Treffer. Später fleht er in der Rolle eines Tinder-Schwindlers in "Anastasia": "Liebe ist, was wir draus machen / Anastasia / Ich bin ab heute immer für Dich da / Hör bitte auf mich auszulachen." Belas Versuch, toxische Männlichkeit in "Einschlag" mit doppeltem Boden zu versehen, gerät leider nicht so überzeugend, dafür transferiert er die Melodie vom letztjährigen "Einmal ein Bier" sehr gekonnt in das langsame, sentimentale "Danach". Rod polarisiert mit seinen völlig überzogenen gebrüllten Vocals in "Schrei" sicherlich, wenigstens heitert der Track die Stimmung aber auf. "Ich will das Dunkel, Hell ist nicht für mich gemacht", singt Bela im ersten Titeltrack, den es überhaupt auf einem Die-Ärzte-Album gibt. Es dürfte vielen leider andersrum gehen, aber ohne ein paar Füller könnte "Dunkel" einigermaßen gut mithalten.

So wie die Single "Noise" – eine der seltenen Gemeinschaftsarbeiten von Farin und Bela – nach und nach ihr Hit-Potenzial entfaltet, wachsen viele andere Songs ebenfalls in der Gunst. Das Ebow-Rapfeature in "Kerngeschäft" irritiert dann nicht mehr so sehr, die in "KFM" besungene "Karnickelfickmusik" lädt zum Wohnzimmer-Pogo ein und an Details wie den verschmitzten Backing-Vocals in "Nachmittag" erkennt der geneigte Fan doch noch den typischen Schalk im Nacken. Vielleicht hatten "Hell", die Tracks auf der Vorabsingle sowie das wirklich großartige Video zu "Noise" einfach andere Erwartungen an den Inhalt geschürt. Dabei können Die Ärzte generell auch mit ihrer ernsten Seite überzeugen. Auf "Dunkel" geraten die Botschaften allerdings stellenweise zu platt und offensichtlich, die Meta-Ebenen werden etwas vermisst. Aber wie drückt es Farin gekonnt aus? "Du hältst nichts von Vollkommenheit / Und wirkst trotzdem die ganze Zeit erhaben." Scheitern kann die Truppe aus Berlin (aus Berlin!) sowieso nur noch an sich selbst. Und hier mag es "Dunkel" sein, aber bei weitem nicht zappenduster.

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Kraft
  • Tristesse
  • Noise
  • Anastasia
  • Danach

Tracklist

  1. KFM
  2. Wissen
  3. Dunkel
  4. Anti
  5. Doof
  6. Schrei
  7. Kraft
  8. Schweigen
  9. Tristesse
  10. Kerngeschäft (feat. Ebow)
  11. Noise
  12. Einschlag
  13. Anastasia
  14. Besser
  15. Nachmittag
  16. Menschen
  17. Erhaben
  18. Danach
  19. Our bass player hates this song
Gesamtspielzeit: 66:14 min

Im Forum kommentieren

Affengitarre

2024-09-06 17:14:39

Exakt! :D

The MACHINA of God

2024-09-06 16:57:44

Und in der blüht die "Dunkel" auf. :)

Affengitarre

2024-09-06 15:11:38

Gehe ich mit. Gerade in der zweiten Hälfte schwächelt die „Hell“ ein wenig.

Felix H

2024-09-06 15:02:40

Für mich haben die beiden Alben etwas angenähert. "Hell" hat doch ein paar Songs ohne lange Halbwertszeit, während "Dunkel" mir vor allem musikalisch besser gefällt und dadurch über die Zeut gewonnen hat. Sehe "Hell" zwar noch vorne, aber nicht mehr so deutlich.

All Crips are Bloods

2024-09-06 14:58:48

Ist sie nicht. "Tristesse", "Noise" und "Dunkel" sind die einzigen Songs mit einer Daseinsberechtigung. Das Teil unterbietet sogar "auch". HELL hingegen fühlte sich wirklich frisch an und hatte mehr gute Songs als Stinker.

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