
Noise Unit - Deviator
Artoffact / CargoVÖ: 17.09.2021
Kampf wie Kuchen
Anfang der Neunziger waren Front Line Assembly die beste Elektro-Band der Welt. Bis heute muss sich jeder, der Body Music produziert, an Meilensteinen wie "Tactical neural implant" und "Caustic grip" messen lassen – perfekter als Bill Leeb und Rhys Fulber verband seinerzeit schlicht niemand synthetisches Mischgewebe und donnernde Sequenzen mit Dancefloor-Power und kathedraler Düsternis. In den Projekten Delerium und Intermix hantierten die Kanadier imposant mit Ambient und Dream Trance respektive Chillout und House – nur bei Noise Unit legten sie sich nie fest. "Strategy of violence", einem EBM-Triumph mit einigen der irrwitzigsten Sounds des Genres, stand etwa das furiose Technotrance-Brett "Decoder" gegenüber – bis das Duo der Belanglosigkeit anheimfiel und Fulber zeitweilig seinen Hut nahm. Der Zahn der Zeit nagt auch digital.
Es ist eben manchmal ein Jammer, wie verdiente Musiker ihr Schaffen nachträglich mit mittelmäßigen Platten entwerten. Dass Leeb und Fulber immer noch umsichtige und teils brillante, wiewohl zuweilen etwas denkfaule Elektroniker sind, ließ sich indes auch an späteren Front-Line-Assembly-Alben wie "Artificial soldier" oder zuletzt "Wake up the coma" ablesen. "Deviator" macht als Noise-Unit-Comeback nach dem dürftigen 2006er-Longplayer "Voyeur" keine Ausnahme: Die Tracks nageln kämpferisch, und auch das Artwork vom vermutlich seriell arbeitenden Grafiker Dave McKean zeigt wie üblich bionische Lebensformen und schleimige Cyber-Wesen. Und besser als mit dem programmatisch betitelten "Body aktiv" kann man das Ganze gar nicht umschreiben: So fett wie möglich, so stumpf wie nötig – schon beben die Bodenplatten unter den lustigen Stiefeln.
Dabei gibt dieser fantastische Brecher nicht nur einen spektakulären Appetizer ab, sondern verweist auch auf ähnlich rigide Stücke wie "Deceit" oder "Collapsed", die bereits vor 30 Jahren Tanzflächen aufrissen. Womit die androide Moorhuhnjagd eröffnet ist, denn Rückgriffe auf die eigene Diskografie gehören auf "Deviator" zum guten finsteren Ton – ebenso wie die weltschmerzgeprägten Zeilen "The world really hates me / So why don't you sedate me" im betrübten "Misery" und das beinahe rührend ungelenke Sample-Gestotter am Ende von "K7". Und da bei Noise Unit von jeher grundsätzlich alles möglich ist, schneidet sich in "Atrocity obsession" eine aggressive Gitarre ein Stück vom Industrial-Metal-Kuchen ab, während der gastierende Pig- und KMFDM-Mann Raymond Watts annähernd so schlürfend skandiert wie Schrottkehlchen Jim Foetus.
Wie schön also, wenn sattsam bekannte Klischees trotzdem funktionieren. Das gilt auch für Leebs Stimme: Der Frontmann wird zwar im Leben kein großer Sänger mehr, aber platziert sich zweckdienlich zwischen heiserem Fauchen und Vocoder-Hallenbad, wo es bekanntlich immer gut ist. Und auch wenn Noise Unit nicht aus der echogenetischen Muckibude senden, genügt ein knackiger Bass und eine rückwärts reinflirrende Harmonie, um aus "Fargo field" einen diskreten Durchdreh-Hit zu machen und mit "Recognize" Synthie-Pop aus der Immer-Depeche-Mode-Falle zu befreien. Sind alle Selbstzitate gefunden, fasst das Titelstück zum Schluss noch einmal sämtliche Aktivposten dieses Albums zusammen – wo es knattert, lass Dich nieder. Nur nicht zu lange, bevor das Gebilde vom Cover noch mit einem glibberigen Mischorgan aus Zunge und Anus ... ach, lassen wir das.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Body aktiv
- Fargo field
- Atrocity obsession (feat. Raymond Watts)
- Deviator
Tracklist
- Plight
- Body aktiv
- Misery
- Fargo field
- Atrocity obsession (feat. Raymond Watts)
- K7
- Recognize
- Empath
- Initiate
- Deviator
Im Forum kommentieren
VelvetCell
2021-09-24 09:02:56
Klint mehr nach Front Line Assembly als die letzten Front Line Assembly-Alben. Was gut ist.
Armin
2021-09-23 19:59:39- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
Meinungen?
Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.
Referenzen
Spotify
Threads im Forum
- Noise Unit - Deviator (2 Beiträge / Letzter am 24.09.2021 - 09:02 Uhr)