Leoniden - Complex happenings reduced to a simple design

Irrsinn / Universal
VÖ: 20.08.2021
Unsere Bewertung: 6/10
6/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Etwas zu viel

"Bald riesig", lautete die These in der Rezension zu "Again", dem bisher letzten Album von Leoniden von 2018. Nun, drei Jahre später darf die Frage erlaubt sein: Hat's geklappt? Joa, also Capital Bra ist noch immer riesiger. Aber Leoniden sind nach wie vor auf dem besten Wege für Menschen U35 mit ordentlichem Musikgeschmack so etwas zu werden wie Beatsteaks für Menschen Ü35 mit ordentlichem Musikgeschmack. Wer die Kieler schon mal live erlebt hat, der weiß: Einen Club abbrennen, das können die. Und zwar besser als die allermeisten anderen Bands. Aber jetzt ist/war ja Corona und, you know, live läuft/lief nicht so viel. Leoniden müssen sich dabei gefühlt haben, wie ein kupierter Hund: Du freust Dich und keiner sieht's. Platte machen, macht da Sinn. Also gibt's jetzt "Complex happenings reduced to a simple design".

Machen wir's kurz: Das neue Album kann leider nicht mit seinen beiden Vorgängern mithalten. Einige der neuen Songs erscheinen für Leoniden-Maßstäbe ziemlich mittelmäßig. Und das, obwohl die Band sich mit Drangsal und Ilgen-Nur quasi das Who-is-who der deutschen Indie-Szene der Post-Kettcar-Ära ins Boot geholt haben. Bei "Boring ideas", das phasenweise klingt wie ein Song der Garage-Rocker Jet, muss man schon ordentlich aufpassen, um Drangsals Gesang überhaupt zu bemerken. Die Melodie von "Deny" klingt zumindest deutlich nach Ilgen-Nurs Feder, der Titel bleibt insgesamt aber recht blass. "Freaks", bei dem die Kollegen von Pabst mitmischen, leitet ein wie ein The-Offspring-Track von 1998, klingt nachher aber wieder wie ein ganz typischer Leoniden-Song mit kurzer Strophe und dann Kopfstimme und Chor im Chorus. Das Gitarren-Solo im letzten Drittel macht auf jeden Fall Bock.

Auch gelungen ist "New 68", eine der Singles, in welcher Leoniden auf eine neue Protestbewegung hoffen und das ganze mit Handclaps und Streichern untermalen. Auch "Where are you" ist ein prima Ding, das einen Rhythmus entwickelt, der wirklich jede*n fesseln dürfte. Auch hier sorgt die Gitarre immer wieder für Spannung. Allgemein ist sie auf dieser Platte wieder wichtiger als auf "Again", wo meist die Synthies dominierten. Am ehesten an die Großtaten beider Vorgänger erinnert "Funeral". Die makabere Geschichte dahinter: Zwei Menschen lernen sich zur Beerdigung der Welt kennen und verlieben sich. Tragisch, aber im Angesicht der apokalyptischen Nachrichtenlage eine durchaus realistische Romanze. Für den besten Song des Albums lassen sich Leoniden Zeit bis zum Schluss. Track Nummer 21 trägt den Namen "Applause" und bringt eine Melodie mit, die lange im Ohr hängenbleibt. Großartig, wie Sänger Jakob Amr am Ende mit zitternder Stimme und einsamer Piano-Begleitung den Refrain wiederholt, bevor die Band noch einmal ausflippt und alles in die Waagschale wirft.

Also zumindest nicht alles langweiliger Einheitsbrei? Nein, das Problem ist anders gelagert und lässt sich ganz gut anhand der fünf Interludes illustrieren, die allesamt den Namen "Complex happenings" tragen. Leider zerpflügen diese kurzen Einschübe die Stimmung ziemlich und scheinen keinen anderen Existenzgrund zu haben, als ihre Existenz an sich. Es ist natürlich jetzt auch nicht völlig unnötig, in "Complex happening pt. 5" die Rage-Against-The-Machine-Version von Leoniden kennenzulernen, oder in "Complex happening pt. 4" die At-The-Drive-In-Interpretation der Kieler. Aber die Frage bleibt: Warum dann nicht richtig durchziehen? Man will eigentlich gar nicht so recht glauben, dass Produzent Markus Ganter (u.a. Casper und Tocotronic) hier die Regler bediente, denn "Complex happenings reduced to a simple design" ist ein derartiger Gemischtwarenladen, dass so ein bisschen verlorengeht, was eigentlich das wichtigste Rezept des Fünfers ist: schweinisch guter Indie-Rock, immer auf die Zwölf, ohne jedes Wenn und Aber, so eingängig, dass selbst der letzte Pop-Hasser mitsingen muss. Das Album ist sicher nicht blutleer, und man darf sich definitiv auf die Live-Darbietung der neuen Songs – und auch der Interludes – freuen, aber leider haben Leoniden auf dieser Platte so viele verschiedene Etwasse untergebracht, dass das gewisse davon schlicht untergeht.

(Pascal Bremmer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Funeral
  • Applause

Tracklist

  1. Paranoid
  2. Love
  3. Funeral
  4. New 68
  5. Complex happenings pt. 1
  6. Home
  7. Where are you
  8. Boring ideas (feat. Drangsal)
  9. Complex happenings pt. 2
  10. Dice
  11. Blue hour
  12. Medicine
  13. Freaks (feat. Pabst)
  14. Complex happenings pt. 3
  15. Deny (feat. Ilgen-Nur)
  16. Complex happenings pt. 4
  17. Broken pieces
  18. Complex happenings pt. 5
  19. Disappointing life
  20. Applause
Gesamtspielzeit: 50:56 min

Im Forum kommentieren

squand3r

2023-12-20 01:59:25

Dice und L.O.V.E. sind fantastisch, beide getragen vom Rhodes Piano - richtig eingesetzt macht das Teil einfach jeden Song zehnmal besser

Autotomate

2021-08-20 16:42:24

"L.O.V.E" mag ich auch, ich hab ne Schwäche für diese Chöre... Die anderen Songs, najaa, finde ich jetzt auch nicht komplett kacke. Die beiden älteren Alben kenne ich noch nicht.

Earl Grey

2021-08-18 22:19:22

Die zwei letzten Alben waren ja wirklich ein Buffet auf einer Hochzeitsfeier... die bisherigen Songs vom neuen Album wirkten für mich aber eher nach den Resten des Buffets. Aber ich lasse mich gerne eines besseren belehren.

@Autotomate
Und wie findest du den Rest?

Autotomate

2021-08-17 09:01:22

"Dice" ist schon ganz hübsch, finde ich...

AliBlaBla

2021-08-16 18:42:02

Ich sage es bei DIESER Band wirklich noch mal, was ich mir sonst verkneife, -das is wirklich ne üble Mischung, ..weil...macht keinen Sinn, no head, no tail, ..weder Fisch noch Fleisch.
Schrecklich.

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