Tyler, The Creator - Call me if you get lost
Columbia / SonyVÖ: 25.06.2021
Reisen bildet
"The best thing that ever happened to me was being damn near twenty and leaving Los Angeles for the first time" – was Tyler Okonma im Intro zu "Massa" spricht, ist die Leitlinie seiner sechsten Platte "Call me if you get lost". Das Cover ziert die ID-Card seines soundsovielten Alter Egos Tyler Baudelaire, gleichermaßen ein Hinweis auf die Freiheit des Reisens und womöglich auch eine Reminiszenz an Ol' Dirty Bastards "Return to the 36 chambers: The dirty version". Dies spiegelt auch die inhaltliche und musikalische Stoßrichtung wider: Häufig beschäftigt sich Tyler, The Creator mit der Reflektion seines Sinneswandels nach dem initialen Fame und greift dabei auf ganz klassische Mittel und Wege des HipHop zurück. "Call me if you get lost" ist ein ganzes Stück mehr Rap als das zwar eigensinnige, aber im Grunde sehr popverliebte "Igor", behält die gelernten Tricks aber dennoch bei.
Das Album ist wie ein Mixtape aufgezogen und DJ Drama hostet das Ganze mit anfeuernden Shouts am Rande der Tracks, die dem stilistisch sehr breit gefächerten Portfolio einen Rahmen geben. Die Einbindung des lautstarken Tellerdrehers mag weniger affine Ohren zunächst irritieren, sorgt aber für einen erstaunlichen Flow und nebenbei fallen schlagfertige Knaller wie "We just landed in Geneva! / Yeah, that's in Switzerland". Zu keiner Sekunde stiehlt Drama jedoch Tyler, The Creator selbst die Show, der trotz seines verblüffenden Raps vor gut zehn Jahren in "Yonkers" über die Jahre immer nur noch besser geworden ist. Das schwierige "Cherry bomb" scheint ein notwendiges Freispielen für den Querkopf gewesen zu sein: "See, I was shiftin', that's really why 'Cherry bomb' sounded so shifty / My taste started changin' from what it was when they met me." Seitdem kann er offenbar nichts anderes als Meisterwerke veröffentlichen. Auf "Call me if you get lost" grummelt, spittet, singt und säuselt er sich durch 16 Episoden, eine erstaunlicher als die andere.
Dass die beiden ersten Singles, die süße R'n'B-Versuchung "Wusyaname" und das unfassbar launig vor sich hin brummende "Lumberjack", direkt aufeinander folgen, zeigt schon, wie wenig "Call me if you get lost" von Grenzen jeglicher Art hält. Das ist nur ein Puzzleteil dieses Wahnsinns: energisch-hitzige Rhymes in "Corso", Groupshouts fürs nächste Festival auf "Runitup". Und das zehnminütige Doppel aus "Sweet / I thought you wanted to dance" träumt sich erst in Liebesfantasien und gräbt in der zweiten Hälfte lupenreinen Lovers' Rock aus. Das allein ist noch kein Verdienst, klar – dass hier jede klitzekleine Idee aber bestens funktioniert und ihren verdienten Platz hat, ist bei der Fülle an solchen jedoch wie ein Sechser im Lotto. Tyler hat zudem ein famoses Gespür, wann sein typisches Augenzwinkern und sein trockener Humor hörbar sein müssen, um nur kurz später mit introspektiven Momenten völlig kalt zu erwischen.
Ein solcher ist das überlange, als Single Take aufgenommene "Wilshire", das sich gänzlich vom Trubel abkapselt, um Okonma eine traurige Dreiecksgeschichte erzählen zu lassen. "Said you can't fully be into me 'cause you with him / Then why the fuck when we link it's like he doesn't exist?" Auch wenn man jedoch nicht auf Tylers Worte hört, wirkt die melancholische Instrumentierung und sein ruhiger Flow wie eine wundervolle Hypnose. Schwierig ist es trotzdem, bei einer Zeile wie "We sat in the car and cried for a hour / My shirt look like a showerhead" keine Träne im Knopfloch verschwinden zu lassen. Und wo wir bei bizarren Liebesdreiecken sind, bietet Tyler auch einer der wenigen offen queeren Rap-Künstler ganz eigene Hilfe fürs Bett an: "He ain't talk to his bitch in three days / It ain't gotta be this way, I'm down for the threesome." So sprengt er wie schon Kollege Frank Ocean sexuelle Identitäten im HipHop bewusst auf – dass ausgerechnet Künstler aus dem durch teils homophobe Juvenilität aufgefallenen Odd-Future-Dunstkreis dies tun, ist bemerkenswert.
"Call me if you get lost" fährt nebenbei auch eine sich gewaschene Gästeliste auf, was bei der atemberaubenden Performance schon beinahe untergeht. Lil Wayne ist nicht zum ersten Mal als alter Hase dabei, und bringt sein Näseln zum Vorteil in "Hot wind blows" unter. Derweil bekommen relativ neue Stimmen wie Teezo Touchdown und 42 Dugg strahlende Momente, ohne dass das Werk nur einen Hauch zerrissen wirken würde. In einer Zeit, in der etablierte US-Musikinstitutionen fragen, ob das noch Rap ist, macht Tyler, The Creator einfach ein Album, das zugleich Rückbesinnung auf Tugenden und Erweiterung des Genre-Kerns ist. So traditionell es sich gibt, so grenzensprengend wirkt es über seine Laufzeit. Dass man es in der Diskografie nicht mal eindeutig als Tylers Opus magnum ansehen kann, spricht für diesen eigensinnigen, genialen Typ. Wie formuliert er es auf seine Weise? "Shoutout to my mother and my father, didn't pull out." Oder so.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Corso
- Lumberjack
- Rise! (feat. Daisy World)
- Juggernaut (feat. Lil Uzi Vert & Pharrell Williams)
- Wilshire
Tracklist
- Sir Baudelaire (feat. DJ Drama)
- Corso
- Lemonhead (feat. 42 Dugg)
- Wusyaname (feat. YoungBoy Never Broke Again & Ty Dolla $ign)
- Lumberjack
- Hot wind blows (feat. Lil Wayne)
- Massa
- Runitup (feat. Teezo Touchdown)
- Manifesto (feat. Domo Genesis)
- Sweet / I thought you wanted to dance (feat. Brent Faiyaz & Fana Hues)
- Momma talk
- Rise! (feat. Daisy World)
- Blessed
- Juggernaut (feat. Lil Uzi Vert & Pharrell Williams)
- Wilshire
- Safari
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The MACHINA of God
2024-11-19 20:53:43
"CORSO" und "LUMBERJACK" immer noch Groove vorm Herrn.
The MACHINA of God
2024-08-01 11:08:13
Gute Idee. Direkt mal wieder reingemacht.
Kojiro
2024-08-01 05:56:03
Immer noch klasse.
The MACHINA of God
2023-04-03 03:55:49
Geil auch immer wieder, wie "Luberjack" reinbolzt, dann erstmal abbricht um kurz Mutti zu grüßen... und dann wieder los- und durchbolzt.
The MACHINA of God
2023-04-03 00:36:22
Geil, da höre ich mal rein. Das Album an sich dürfte mein liebstes von ihm sein.
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