Squid - Bright green field

Warp / Rough Trade
VÖ: 07.05.2021
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Manifest einer Krise

Dan Carey hat aktuell einen beneidenswerten Beruf. Der erfahrene Musikproduzent sitzt gewissermaßen an der Schaltzentrale junger britischer und irischer Bands, deren experimenteller und genresprengender Umgang mit Post-Punk-Traditionen in den letzten Jahren ordentlich an Fahrt aufgenommen hat. Nachdem er die Regler bereits bei Alben von Fontaines D.C. und Black Midi sowie Singles von Black Country, New Road betätigte, ziehen nun also Squid nach, ein Quintett aus Brighton, dessen Debütalbum ebenfalls von enorm vielversprechenden Frühsignalen eingeleitet wurde. Singles wie "Houseplants" oder "Sludge" ließen aufhorchen, wiesen sie doch bereits eine ganz eigene Signatur nach: Als spielten durchschmorende Roboter Bloc-Party-Cover, die langsam in abseitigere Krautrockgefilde diffundieren – so ähnlich zuckte die Band tanzbar und doch völlig neben der Kappe durch ihre Songs, während Ollie Judges bizarr hyperaktive Vocals dazu jaulten und krischen, dass es kein Entrinnen gab. Wie er es gleichzeitig auch noch schafft, sein Schlagzeug mit motorischer Präzision zu bedienen, muss ein Rätsel bleiben. Squid teilen mit ihren Szenegenossen jedenfalls ein Rock-Fundament, das von allerhand Irrsinn und Störgeräuschen torpediert wird und die Botschaft, dass Gitarrenmusik anno 2021 Wagnisse eingehen sollte. Apropos: Beinahe folgerichtig findet sich keine der imposanten Singles aus der noch kurzen Bandgeschichte auf "Bright green field", weil sie schlicht nicht zum selbstverschriebenen kreativen Wandel der Band passten. Düsterer solle das Album klingen, imaginäre Orte statt Figuren entwerfen. Wenn das mal keine Ansage ist.

Squid frönen nicht nur in ihren Liedern einer Ästhetik der falschen Fährten. Auch das Cover ist eine: Das grüne Feld lockt nur scheinbar, seltsam künstlich mutet es an, ein riesiger toter Körper scheint sich darauf abzuzeichnen. Das Intro "Resolution square" evoziert dann zwischen Field Recordings und Feedback-Brummen eher einen industriell geformten, urbanen Raum, in dem die Welt widersprüchlich und hektisch zu flackern beginnt. Nach dem verhältnismäßig eingängigen "G.S.K." bricht das fulminante "Narrator" herein, mit dem Squid ein völlig neues Plateau erklimmen. Ein ansteckender Groove mit jazzigen Licks in den Strophen wird nach und nach von Dissonanzen besprenkelt, nach einem zurückhaltenden Zwischenteil baut sich die unvergessliche Klimax auf. Judge und Gastsängerin Martha Skye Murphy mimen zwei Protagonisten, die ihrer Erzählung entlaufen, ihre Rolle nicht länger erfüllen wollen: "I play mine", wiederholt Judge mal fanatisch, mal katatonisch, während Murphys anfängliches Hauchen in gellende Schreie aus dem Hintergrund übergeht, die einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagen. Auch "Boy racers" verlässt seinen vertrackt-schmissigen Einstieg, um dann minutenlang durch eine verstörende Ambient-Hölle zu wandern, in der Roboterstimmen und von Dämonen besessene Synthies donnern. "Paddlings" schließt dieses überwältigende Trio mit seinem famosen Gitarrengalopp ab, der an King Gizzard & The Lizard Wizard gemahnt und im Vergleich fast freundlich wirkt.

Auch die ruhigeren Stücke durchlaufen zahlreiche Metamorphosen und sprudeln vor Ideenreichtum und klanglichen Finessen. "Documentary filmmaker" präsentiert ein feinsinniges Zusammenspiel aus Gitarren, rutschigen Synthies und sanften Bläsern, die gekonnt ineinander verschwimmen. "2010" erinnert an den betörenden Akkordreichtum Radioheads, bis ein Noise-Ausbruch vorübergehend alles in Schutt und Asche legt. Stets bewegen sich Squid auf dem schmalen Grat zwischen Reizüberflutung und Faszination – man wird den Eindruck nicht los, dass die hier versammelten Musiker kompromisslos alles in die Waagschale werfen. Es schwelt immer etwas unsichtbar Brodelndes im Bewegungsdrang und der Ekstase der Band – darin arbeitet sie mit Strukturen elektronischer Musik – doch die Tanzbarkeit vieler Passagen fängt den abstrakten Überschuss im Körper auf. Ganz ohne Präzedenzfälle ist das natürlich nicht: Ein ähnliches Spannungsfeld bespielten einst die Talking Heads, während die paradoxe Kombination komplexer Kompositionen und punkigen Geistes das Spätwerk von Unwound heraufbeschwört.

Ausgerechnet "Global groove" entwickelt entgegen seinem Titel dann zunächst eine schwergängige Industrial-Atmosphäre; später schunkeln die Bläser elegisch à la Duke Ellington. "What's your favourite war on TV just before you go to sleep?", fragt Judge zynisch und überspitzt plakativ ein zentrales Thema des Albums: mediales Dauerfeuer und die einsetzende Orientierungslosigkeit, wenn Wahrheit von konkurrierenden Erzählungen verdrängt wird. Verzerrte Fetzen eines Telefongesprächs legen sich über das Coda, das ängstlich stammelnd schließt: "... being exposed to too much realism." Dahinter liegt eine diffuse und gleichzeitig intuitiv spürbare Gesellschaftskritik, wie sie auf "OK Computer" stilprägend wurde. Der epische Abschluss "Pamphlets" lässt seinen Erzähler vollends verzagen: "But those pale bricks and white smiles / That's why I don't go outside." Beinahe mantraartig wiederholt er seine Selbstisolation, die zurzeit noch etwas bitterer und auswegloser klingt, bis sie sich im Strudel der anschwellenden Musik zu einem verzweifelten Brüllen steigert. Bei aller Spielfreude und Virtuosität ist "Bright green field" somit auch das Manifest einer Krise geworden, ein Aufschrei gewaltigen Ausmaßes, unangenehm und verführerisch in gleichen Teilen, aber vor allem: ein in jeder Hinsicht mutiges und beeindruckendes Debütalbum.

(Viktor Fritzenkötter)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Narrator (feat. Martha Skye Murphy)
  • Boy racers
  • Global groove
  • Pamphlets

Tracklist

  1. Resolution square
  2. G.S.K.
  3. Narrator (feat. Martha Skye Murphy)
  4. Boy racers
  5. Paddling
  6. Documentary filmmaker
  7. 2010
  8. The flyover
  9. Peel st.
  10. Global groove
  11. Pamphlets
Gesamtspielzeit: 54:41 min

Im Forum kommentieren

The MACHINA of God

2023-08-11 19:47:37

Immer noch tolles Album. DerAnfang von "Peel St." klingt übrigens nach Battles. :) Hoffe ich sehe sie nächsten Monat mal live.

javra

2022-09-24 14:00:38

https://www.youtube.com/watch?v=runV6tRBuAI

Deaf

2022-02-11 18:42:19

Ja, den Auftritt letzten Oktober fand ich auch ganz stark, war sicher eines der Highlights des Jahres.

javra

2022-02-11 18:17:49

Hätte ja echt nicht gedacht, dass sich das Album live so gut macht, aber die KEXP-Performance steht der Albenversion echt in nichts nach.
Bin fast genauso baff wie Cheryl Waters, die hier Gastgeberin ist...

javra

2022-02-04 14:54:25

> Gibt übrigens nochmal ne "richtige" KEXP-Session, hatte das Glück die anzuschauen, aber kurze Zeit später wurden sie wieder gelöscht...

*Jetzt* sind die Videos wieder online!

https://www.youtube.com/watch?v=Nc3LoqiNfBU
https://www.youtube.com/watch?v=fM0CsCZG_N0

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv

Threads im Forum