Nils Frahm - Graz

Erased Tapes / Indigo
VÖ: 29.03.2021
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Allen Segens Anfang

Wenn ich groß bin, möchte ich so sein wie Nils Frahm: jeweils in höchstem Maße kreativ, strebsam, experimentierfreudig. Mit Melodien für die Ewigkeit im Gepäck, für sämtliche Gefühlslagen, für alle Momente im eigenen, emotionalen Fotoalbum. Und natürlich immer für eine Überraschung gut. Da glaubt man, dass man den Wahl-Berliner so langsam durchschaut hat und erwartet längst wieder ein neues Werk pünktlich zum von ihm ins Leben gerufenen Piano Day – so wie er zuletzt auch 2020 mit "Empty" eine kleine musikalische Hommage an das vielseitige Instrument veröffentlichte. Nun lässt sich einer wie Frahm natürlich nur ungern auf die Klaviatur gucken. Und so durfte man zwar durchaus gespannt sein, was er für den diesjährigen Feiertag geplant hatte, auf ein Ergebnis in Form von "Graz" dürfte allerdings niemand getippt haben.

Denn "Graz" ist tatsächlich das allererste und bisher unter Verschluss gehaltene Studioalbum Frahms für Erased Tapes – Aufnahmen von 2009, die im Zuge seiner Abschlussarbeit "Conversations for piano and room" an der Kunstuniversität Graz entstanden sind und bisher bis auf kleinere Ausnahmen in der Schublade verweilen mussten. Dementsprechend ist das Album sowohl für langjährige Frahm-Jünger als auch für all jene interessant, die sich nun zum ersten Mal mit ihm beschäftigen wollen. Für Erstgenannte ist es vor allem ein spannendes Zeugnis: der Beginn einer Reise mit verschiedensten Zwischenstopps, auf der man nun schon so lange als Gast mit dabei sein durfte, deren Ziel aber nach wie vor völlig offen ist. "Graz" ist der erste Stein in einem Fundament, auf dem längst ein riesiges Bauwerk steht. Und wir alle stehen mittendrin und schauen dem Künstler bei der Arbeit zu. Geplante Vollendung? Hoffentlich in einer weit entfernten Zukunft.

Die Platte startet mit einer halben Lüge. "Lighter" mag vielleicht nicht gerade schwermütig sein, ein allzeit bereites Feuerzeug ist es jedoch nicht. Sondern vielmehr eine zarte, kleine Flamme von einem Teelicht in ansonsten tiefschwarzer Dunkelheit. Wie kleine Berührungen mit den Fingerspitzen fühlt sich die sanfte Melodie an, trostspendend und doch gefühlt noch fern. Der Freund, der immer hinter Dir steht, auch wenn Du ihn nicht siehst. "Kurzum" ist das genaue Gegenteil: Es packt über acht Minuten lang heftig zu, hautnah tanzt es mit Dir im Arm durch den menschenleeren Raum, lässt Dich alles etwas deutlicher spüren, schmecken, riechen. Überhaupt, diese Emotionalität! Diese Intensität! Dieses "Crossings", das gleichermaßen so traurig und so hoffnungsvoll ist, dass es schmerzt und man doch nicht genug davon bekommt! Jeder Tastenschlag eine Faust in die Magengrube und eine streichelnde Hand.

Nicht alles ist brandneu oder komplett unbekannt auf "Graz". So wurde etwa das verspielte "Because this must be" schon 2017 als Standalone-Single veröffentlicht. Und die bereits angesprochenen Fans der ersten Stunde und Wegbegleiter Frahms werden mit Sicherheit auch "Hammers" wiedererkennen, das seit einigen Jahren einen festen Platz in den Konzert-Setlists hat und wie "Went missing" schon auf dem 2013er-Album "Spaces" zu hören war. Hier nun in deutlich erschlankter Form und um zwei Minuten gekürzt, verdeutlicht "Hammers", warum Frahm nicht einfach nur irgendein Pianist ist, sondern eben ein Meister seines Fachs, international anerkannt, einer, dem wir gern unser Herz schenken und von dem wir im Gegenzug verzaubert werden. Jahr für Jahr, Melodie für Melodie. Wenngleich es gar nicht verkehrt ist, ambitionierte Träume zu haben: Natürlich werden wir niemals so sein wie Nils Frahm. Der ist einer von diesen Einzigartigen. Aber immerhin dürfen wir dabei sein auf dieser Reise, die hoffentlich noch lange weitergeht.

(Jennifer Depner)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Kurzum
  • Hammers
  • Crossings

Tracklist

  1. Lighter
  2. O i end
  3. Because this must be
  4. Kurzum
  5. And om
  6. Hammers
  7. Crossings
  8. About coming and leaving
  9. Went missing
Gesamtspielzeit: 38:57 min

Im Forum kommentieren

Klaus

2021-04-04 11:46:28

Bin jetzt an den freien Tagen auch mal dazu gekommen, es komplett zu hören. Sehr schön, guter Klang, einfach perfekt für die etwas ruhigeren Tage.

Jennifer

2021-04-04 10:13:27

Danke für das Lob, boneless. :)

Ich kann sowohl mit dem "klassischen" Frahm was anfangen als auch mit dem experimentellen. Aber hier war ich irgendwie ganz froh, dass es mal wieder zurück zu den Wurzeln ging. Hatte das Album jetzt seit Ende Februar vorliegen und höre es (oder zumindest einzelne Stücke davon) fast jeden Tag. Schönes Teil.

boneless

2021-04-02 18:45:14

Sehr schöne Rezension, Jennifer.
Das Album ist wundervoll, die auch in der Rezi angesprochenen Kurzum und Crossings sind so tief melancholisch und gleichzeitig wunderbar, dass man durchaus eine Träne verdrücken darf. Graz klingt für mich zudem wie ein Bruder von The Bells: Zuweilen sehr eingängig, auf der anderen Seite aber auch recht sperrig. Einige Parts muss man sich erarbeiten, so locker flockig wie auf seinen neusten Werken gehen die Stücke nicht ins Ohr. Was ich sehr begrüße, da ich wie gesagt eher ein Fan des "frühen" Nils bin. Ich hoffe ja immernoch, dass sein Record Release Konzert zu The Bells damals auch noch seinen Weg auf Cd/Vinyl findet. Denn dieses Konzert in der Grunewald-Kirche zu Berlin fasst auf beeindruckende Weise seine Improvisationskunst am Flügel zusammen. Ohne elektronischen Firlefanz, nur schlichte, ergreifende, nackte Tastenemotionen. Dieser musikalische Sonnenaufgang ab Minute 3:20 bereitet mir bei jedem Hören aufs Neue Gänsehaut...

Armin

2021-03-31 21:07:12- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

VelvetCell

2021-03-30 15:04:21

Ich mag beide Ausrichtungen. Sowohl bei Frahm als auch bei Arnalds.

Die spartanischen Sachen sind meinem Herzen aber näher.

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