Tindersticks - Distractions

City Slang / Rough Trade
VÖ: 19.02.2021
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Tiefe Verneigungen

Experimente können jederzeit scheitern und jene musikalischer Art machen da keine Ausnahme. Ein solches wagen nach fast 30 Jahren Bandgeschichte die Tindersticks gleich zum Auftakt ihres neuen und faszinierenden Albums "Distractions", das nur 15 Monate nach dem starken "No treasure but hope" erscheint. Ein hypnotisches, gleichermaßen rätselhaftes wie faszinierendes Eröffnungsstück steht da am Eingang zu einer Scheibe, die Song für Song mit Staunen erkundet werden will. Vorab so viel: Wer hier gleich abspringt, verpasst so einiges.

"Man alone (can't stop the fadin')" heißt das fast zwölfminütige Konstrukt, mit dem Sänger Stuart A. Staples und seine Mitstreiter loslegen. Zurückhaltend, aber ideenreich instrumentiert ist das Ganze und in Verbindung mit dem mantraartig vorgetragenen "Can't stop the fadin'", das sich immer tiefer ins Bewusstsein einschleicht, fällt es trotz der ungewohnten Klänge leicht, sich bereitwillig auf das Experiment in Überlänge einzulassen. "I imagine you" fällt im Anschluss vertrauter aus und leitet über zu einer liebevoll und mit Herzblut inszenierten Strecke von drei Coverversionen, die einen ganz persönlichen Blick auf einige musikalische Einflüsse der Briten werfen. Neil Youngs "A man needs a maid", Dory Previns "Lady with the braid" und "You'll have to scream louder" von Television Personalities werden durchweg überzeugend neu arrangiert und kommen im Tindersticks-Gewand allesamt als stimmige Interpretationen daher.

Für das grandiose Finale ihres neuen Albums haben sich die Tindersticks schließlich noch zwei Besonderheiten aufgespart: In "Tue-moi" widmet sich Staples mit französischem Text dem Club Bataclan und den Anschlägen von 2015, in dem auch seine Band regelmäßig zu Gast war. Sein zurückhaltender Vortrag und die Begleitung durch das Piano ergeben ein intensives Hörerlebnis. Den Schlusspunkt setzt das starke "The bough bends", dessen Vogelgezwitscher erfreulicherweise nicht die Abzweigung zum Kitsch einleitet.

Eine Band blickt auf sich und auf die Welt: Dieses Szenario ist bildlich vorstellbar. Auf abgedunkelter Bühne konzentriert musizierend, mit staunendem Blick auf all das, was gerade passiert. Und bei weitem nicht mehr alles begreifend, was geschieht. Und wo liegt nun der wahre Kern des Albums? Im Bekenntnis zum Experiment wie im ersten Stück? Im uneingeschränkt überzeugende Mittelteil mit der tiefen Verneigung vor einigen musikalischen Vorbildern? Oder in den beiden finalen eigenen Songs, in denen die Band noch einmal zur Höchstform aufläuft? Nun: Es ist alles gleichermaßen wichtig für das große Ganze, das hier geschaffen wurde. Die Tindersticks jedenfalls wirken auch nach fast drei Jahrzehnten höchst lebendig, auch wenn das Album in der Gesamtbetrachtung zunächst teilweise ein wenig rätselhaft bleibt. Darin allerdings liegt nur eine weitere Stärke von "Distractions".

(Torben Rosenbohm)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Man alone (can't stop the fadin')
  • You'll have to scream louder
  • Tue-moi

Tracklist

  1. Man alone (can't stop the fadin')
  2. I imagine you
  3. A man needs a maid
  4. Lady with the braid
  5. You'll have to scream louder
  6. Tue-moi
  7. The bough bends
Gesamtspielzeit: 46:46 min

Im Forum kommentieren

NeoMath

2021-03-30 14:06:43

Gestern Abend (ok, es war bereits nachts) zum ersten mal gehört. Nach einem anfänglichen "oha, soviel schräge Elektronik?" hat sich das Album zu einem Stimmungswerk gemausert, das perfekt zur Tageszeit und der eigenen Konstitution passte. Besonders hinten raus fand ich es zunehmend besser.

Ob ich das Teil jetzt auch bei strahlendem Wetter anmachen würde... bezweifle ich mal vorsichtig :-)

Anders aber auch gut, auf den ersten Eindruck zumindest.

carpi

2021-02-27 20:14:37

Für einen Song wie "You'll have to scream louder" liebe ich sie, das Original der Television Personalities auf "The Painted Word" ist natürlich auch grandios. Gute Wahl.

ijb

2021-02-20 23:08:05

plus:

2002 Vendredi Soir (Filmmusik, Hinchliffe solo) 6/10
2004 L'Intrus (Filmmusik, Staples solo) 7/10
2005 Lucky Dog Recordings 03-04 (Staples solo) 8/10
2006 Leaving Songs (Staples solo) 7/10
2008 35 Rhums (Filmmusik) 8/10
2018 Arrhythmia Seite 1: 8/10, Seite 2: 4/10, Gesamt: 6/10

ijb

2021-02-20 23:01:30

Ich habe heute alle Studioalben der zweiten Tindersticks-Phase in umgekehrter Chronologie gehört – von "Distractions" rückwärts bis "The Hungry Saw", eben noch "Les Salauds" als Bonus; ihr bestes Film-Album dieser Phase. Ich hatte eine Bewertung aller Alben aus dem Bauch heraus erstellt und wollte dann herausfinden, ob ich wirklich richtig lag.

Ergebnis: Tatsächlich musste ich mehrere Alben nach oben korrigieren, speziell "Across Six Leap Years", weshalb jetzt langweiligerweise (fast) alle auf 8/10 kommen.
Es sind überall vereinzelt ein paar weniger geniale Songs drauf, aber auf allen Alben sind auch genügend großartige.
Aufgefallen ist mir, dass die ersten beiden (2008 / 2010) noch deutlich mehr nach der ersten Tindersticks-Phase (bis 2003) klingen, und ab "The Something Rain" dann so richtig der neue, leichtere Sound durchgreift. Mit dem neuen Album gibt es nun endlich mal wieder spürbare neue Ideen. Ich fand's eh schade, dass sie nie die elektronischere Ästhetik von "Les Salauds" mehr auch für die Songalben eingesetzt haben.

2008 The Hungry Saw 8/10 (Lieblingssong: „The Hungry Saw“)
2009 White Material (Filmmusik) 7/10
2010 Falling Down a Mountain 8/10 („Falling Down a Mountain“)
2011 Claire Denis Film Scores 1996-2009 8/10
2012 The Something Rain 8/10 („Frozen“)
2013 Les Salauds 8/10 (aber „Put Your Love In Me“ ist 10/10)
2013 Across Six Leap Years 7-8/10 ("Say Goodbye to the City")
_ (9/10 für die Songs, 7 dafür, dass die neuen Versionen z.T. sehr eng an den ersten Versionen sind.)
2016 The Waiting Room 7/10 ("We Are Dreamers!“)
2019 No Treasure But Hope 7/10 („See My Girls“)
2021 Distractions 8/10 (erster Eindruck) ("You’ll have to scream louder")


Erste Bandphase, aus dem Bauch heraus:

1993 [First Untitled Album] 10/10
1995 [Second Untitled Album] 10/10
1996 Nénette et Boni (Filmmusik-Album) 7/10
1997 Curtains 10/10
1998 Donkeys 92-97 8/10
1999 Simple Pleasure 8/10
2001 Trouble Every Day 7/10
2001 Can Our Love… 8/10
2003 Waiting for the Moon 7-8/10

Armin

2021-02-17 20:17:36- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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