The Hold Steady - Open door policy

Positive Jams / Membran
VÖ: 19.02.2021
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

We all want the same things

"Each daybreak there's a new parade." Mit der Beständigkeit des täglichen Sonnenaufgangs ziehen The Hold Steady seit nun über 15 Jahren um die Häuser. "The feelers" braucht keinen Augenblick, um wie ein alter Freund an die Tür zu klopfen. Ohne Umschweife zwängt sich Craig Finn durch den Spalt, strotzt seinem Sprechgesang ein paar sofort unter die Haut gehende Melodien ab und erzählt eine seiner so plastischen Geschichten von Drogenbaronen und Bummlern mit Engelsflügeln. Hätte der Boss selbst nicht im Spätherbst seiner Karriere noch zwei seiner besten Alben rausgehauen, die Frage nach dem neuen Springsteen wäre längst beantwortet. Auch Finns Bandkollegen beherrschen noch alle ihre Tricks: die jubilierenden Bläsersätze, die kompakten Riffs von Tad Kubler und Steve Selvidge, das Orgel- und Piano-Perlen des zwischenzeitlich ausgestiegenen Franz Nicolay. Und doch ist dieses Mal etwas anders. Das macht schon eingangs erwähnter Opener klar, wenn er mehrfach das Tempo wechselt und in den schnelleren Passagen eher düsteren Post-Punk als den gewohnten Bar-Rock evoziert. Auf ihrer achten Platte "Open door policy" wagen sich die Jungs aus Brooklyn wieder stärker aus ihrer Komfortzone heraus als auf der leicht enttäuschenden und routinierten Songsammlung "Thrashing thru the passion".

So schneiden etwa in "Spices" überraschend scharfkantige Gitarren durch Finns Genöle, lassen sich von sanften Glockenspiel-Klängen und einem euphorischen Refrain jedoch wieder beruhigen. Wie von The Hold Steady gewohnt, läuft der unmittelbarste Zugang zu ihrer Musik über die emotionale Ebene: Man lässt sich von einzelnen Textzeilen oder dynamischen Momenten berühren, bewegen und mitreißen, bevor der vollständige Sinnzusammenhang der Wörter erfasst und jeder Winkel der Songs ausgekundschaftet wurde. Nirgends wird das deutlicher als im wunderschönen "Lanyards", dessen non-lineare Fragmente über Scheitern und Depression sich erst nach und nach zusammensetzen, das aber dennoch vom ersten Hören an ins Herz sticht: "When they kicked in the door, they said that's way too much blood for a nosebleed." Finn hat sich schließlich gerade deshalb als Schutzpatron des New Yorker Nachtlebens etabliert, weil er sich vor allem für die so individuellen Hintergründe des Eskapismus interessiert. Eine gewisse Reife prägte das Sextett schon zu seinen ungestümeren Zeiten und setzt sich in ihrem Indie-krediblen Heartland Rock immer stärker durch – sei es im stampfenden "Heavy covenant" oder im unaufgeregten Gestus des perkussiv umtriebigen Highlights "Riptown".

Ein Widerspruch zu besagten stilistischen Ambitionen ist das freilich nicht, da "Open door policy" diese unaufdringlich ins Gesamtwerk einbaut. "Unpleasant breakfast" treibt Drumcomputer, strandtaugliche Licks und Achterbahn-Chöre zu einer ganz und gar bandtypischen Klimax zusammen. "Hanover camera" funktioniert mit seinem jazzigen Schlängeln ebenso perfekt als Abschluss wie das transatlantisch zum Brit-Punk schielende "The prior procedure" an der richtigen Stelle Dampf ablässt. Die Wucht eines "Boys and girls in America" mögen The Hold Steady nicht mehr erreichen, aber das wollen sie auch überhaupt nicht – und solange ihre neuen alten Paraden immer noch so voller Spielfreude und Gesellschaftspoesie sprühen, müssen sie das genauso wenig. "They're never going to love you that one specific way that you want them all to love you / And you want them all to love you", heißt es im grandiosen "Family farm", begleitet von einer himmelhohen Bläserfront. Musik kann vielleicht keine echte Liebe ersetzen, aber zumindest über Entfernungen und Lebensrealitäten hinweg ein Gefühl des Verstandenwerdens vermitteln. Wenn Craig Finn klopft, steht die Tür schon längst offen.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Lanyards
  • Family farm
  • Riptown

Tracklist

  1. The feelers
  2. Spices
  3. Lanyards
  4. Family farm
  5. Unpleasant breakfast
  6. Heavy covenant
  7. The prior procedure
  8. Riptown
  9. Me & Magdalena
  10. Hanover camera
  11. Parade days (Digital bonus track)
Gesamtspielzeit: 43:58 min

Im Forum kommentieren

Peacetrail

2021-04-08 16:01:31

Kenne Seperation Sunday und Almost killed me. Diese Mischung aus Rockgitarren und gerufener Geschichtenerzählung hat was Pfirsich (-:
Die neue soll ja starke Springsteen-Einflüsse haben, ich habe sie aber noch nicht gehört, bin aber bei Grizzly, sprich: kann man sicher blind kaufen. Mache ich jetzt auch gleich.

Wolf

2021-04-08 15:50:29

Hab die Band bisher immer links liegen lassen. Irgendwie hat es mich nicht gepackt. Aber wie toll bitte ist Lanyards? Top 10 2021 keine Frage. Muss mich dann wohl mal rückwärts durch den Backkatalog arbeiten.

VelvetCell

2021-03-09 20:32:36

"Constructive Summer" von Stay Positive ist mein Hold Steady-Übersong. All-Time-Favorite. Und doch habe ich die Band irgendwie aus den Augen verloren.

MartinS

2021-03-09 20:20:50

Ist so ein Album, von dem man nach einiger Zeit erst überrascht merken wird, wie oft man es schon gehört hat.
Behaupte ich jetzt mal.

Gordon Fraser

2021-02-20 20:23:10

Kann man immer nur wieder unterstreichen. Craig Finn ist ein fantastischer Erzähler im Songformat: lakonisch, leidenschaftlich, liebevoll.

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