Slowthai - Tyron

Polydor / Universal
VÖ: 12.02.2021
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Provokation und Zweifel

Am 19. September 2019 wurde Slowthai schlagartig zum Symbol einer in den Wirren des Brexit radikalisierten Kulturszene. Seinen Auftritt bei der Verleihung des Mercury Prize, immerhin die wichtigste Auszeichnung alternativer Musik im Land, beendete er in denkwürdiger Manier. Den abgetrennten Kopf des Premierministers in der Hand, schrie der Rapper seine Wut ins Mikro: "Fuck Boris Johnson, fuck everything, and there's nothing great about Britain!" Dann verschwand er von der Bühne. Dass es sich bei dem Kopf natürlich nur um eine Attrappe handelte, ließ die anschließend kochende Kontroverse nicht verstummen. Eine grenzüberschreitende Geschmacklosigkeit sahen die einen, eine verzweifelte Metapher für die kopflose Politik der sozialen Spaltung und des vergifteten Klimas im Vereinigten Königreich die anderen. In jedem Fall brannte sich der Auftritt ins kollektive Gedächtnis ein und schloss das erste Kapitel in der Karriere des Rappers mit einem Knall ab.

Galle speiende Tiraden gegen eine Gesellschaft, die nur noch auf dem Papier besteht und eine brutale und rücksichtslose Dekonstruktion des Selbstbildes Großbritanniens waren die Leitmotive seines Debüts "Nothing great about Britain". Angespannt, nervös und unheilvoll schepperten die Tracks in der gerne übersehenen Gosse. Schon der Albumtitel zeigt an, dass Slowthai auf seinem Zweitling den Fokus etwas verschiebt: "Tyron" ist nämlich auch der bürgerliche Vorname des 26-Jährigen mit karibisch-irischen Wurzeln, verweist also auf Innenschau und Identitätsfragen. Wer nun aber einen autobiographischen Bildungsroman in Rapform erwartet, wird schnell eines Besseren belehrt. "45 smoke" vermählt wummernde Trap-Bässe mit der Hektik und spielerischen Selbstüberhöhung des Grime, während Slowthais eigenwilliger Flow um den Beat tanzt. "Cancelled" knüpft rasant an und lässt den ersten von zahlreichen prominenten Gästen auf die Bildfläche treten. Wie schon auf dem Debüt erweist sich der Kontrast zwischen Skeptas bedrohlicher Tightness und Slowthais Überdrehtheit als überaus potentes Mittel.

Textlich schimmert in Skeptas Hook der Agent Provocateur durch: "Twenty awards on the mantlepiece / Pyramid Stage at Glastonbury." Wer es so weit gebracht hat, so die Botschaft, sei gegenüber der öffentlichen Löschung unantastbar. Hinter der vordergründigen Absage an die Cancel Culture verbirgt sich eigentlich der Kampf der Marginalisierten, auch als ästhetische Forderung nach "endless poetry like Jodorowsky." "Mazza", in dem ASAP Rocky souverän die Rolle des Widerparts einnimmt, kommt entspannter daher, doch auch hier dauert es nicht lange, bis das repetitive Sample die Welt verschwimmen lässt. Slowthai mimt derweil einmal mehr den klarsichtigen Psychotiker. "But I never felt love before the drugs", summt er und klingt dabei tatsächlich ein wenig nach Pete Doherty.

Das düstere "Dead" und der abgründige Tempowechsel in "Play with fire" künden bereits vom Riss, der mitten durch "Tyron" geht: Eine Hälfte steht in der offiziellen Tracklist in Kapitalen, die andere in Kleinbuchstaben. Auf Wildheit folgen Kater und Introspektion, wie man sie bislang von Slowthai kaum gehört hat. Depression und existentielle Zwiespältigkeit bevölkern die von nun an deutlich ruhigeren Tracks. Fragiler und intimer Soundcloud-Lo-Fi ("Push") läutet das exzellente Schlussdrittel des Albums ein. "NHS" verbindet die Ode ans britische Gesundheitssystem mit einer grundsätzlichen Einsicht in das inhaltliche Programm des Albums: "There's no flight without turbulence", jede Geschichte hat ihre Widersprüche. Und im berührenden "Feel away" mit Mount Kimbie und James Blake kehrt Slowthai seine Verletztlichkeit endgültig nach außen. Die Frage nach emotionaler Balance ("You felt low / I took you higher than a note from Mariah") und Erinnerungen an den verstorbenen Bruder wechseln sich ab. "Tyron" ist eine überzeugende, in Teilen auch mutige Weiterentwicklung des Debüts und Zeugnis eines komplexen Künstlers, der langsam seine vielen Gesichter offenbart. Noch blicken sie sich mitunter skeptisch in die Augen und studieren einander skizzenhaft, doch dieses Selbstgespräch ist ein Versprechen.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Cancelled (feat. Skepta)
  • Play with fire
  • NHS
  • Feel away (feat. James Blake & Mount Kimbie)

Tracklist

  1. 45 smoke
  2. Cancelled (feat. Skepta)
  3. Mazza (feat. A$AP Rocky)
  4. Vex
  5. Wot
  6. Dead
  7. Play with fire
  8. I tried
  9. Focus
  10. Terms (feat. Dominic Fike & Denzel Curry)
  11. Push (feat. Deb Never)
  12. NHS
  13. Feel away (feat. James Blake & Mount Kimbie)
  14. ADHD
Gesamtspielzeit: 34:56 min

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Armin

2021-02-03 20:05:24- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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