Anna B Savage - A common turn

City Slang / Rough Trade
VÖ: 29.01.2021
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

This is desire

Musik sei ja heute nichts mehr wert, behaupten die einen. "Die Kunst! Das Produkt! Die Optik! Die Haptik!", entgegnen die anderen. In der Tat ist es heutzutage vielleicht schwieriger als je zuvor, aus der endlosen Masse an Neuveröffentlichungen herauszustechen. Der einstige Nischentrend der exklusiven farbprächtigen Vinylpressungen ist heute genauso gängig wie die Tatsache, dass immer mehr Menschen überhaupt wieder zur Schallplatte greifen. Die Britin Anna B Savage hat zwar keine allgemeingültige Lösung für dieses Problem der schwer auszumachenden Alleinstellungsmerkmale gefunden, aber für Vorbesteller ihres Debütalbums "A common turn" hält sie ein so ungewöhnliches wie interessantes Goodie bereit: den Fan-Vibrator! Nur (gefühls-)echt mit eingestanztem Logo und aus biologisch abbaubarem Plastik.

Natürlich wäre das reine Effekthascherei, wenn die Singer-Songwriterin nicht die passende Erläuterung parat hätte: sie sei es leid, mit ihrer Sexualität hinterm Berg zu halten und ein Vibrator sei ein nützlicher Begleiter für die all Dinge, mit denen sie auf diesem Album zu kämpfen habe. Und: "To sum it up in two words: wank more.“ Wer hinter dieser Promo-Aktion nun plumpe, effektheischend oberflächliche Musik vermutet, könnte falscher gar nicht liegen. Nach einem kurzen Intro zeigt "Corncrakes" in knapp vier Minuten, was hier alles los ist. Savages beinahe sonore Stimme, deren Anmut und Drama gleichermaßen an Anohni und PJ Harvey denken lassen, trägt das geschmackvoll mit akustischen Gitarren und zurückhaltenden Background-Vocals ausgestattete Stück in Richtung einer ergreifenden Klimax: "I don’t know if this is even real / I don’t feel things as keenly as I used to." Das Tempo zieht an, die Saiten reißen und das Tamburin fliegt quer durch den Raum. So macht man viel aus wenig.

"A common turn" schafft es mit kaum mehr als Savages wandlungsfähiger Stimme und zwei, vielleicht drei Begleitinstrumenten, eine bedrückende Atmosphäre der Erschütterung und Seelennot zu heraufzubeschwören. Die vielen Leerstellen im Klangspektrum geraten dabei zum Vorteil: Das schier riesige dynamische Spektrum wird selbst zum Instrument, indem die Stille immer wieder durch dezente Percussions oder Berge an Reverb gefüllt wird. Oder eben einfach Stille übrig bleibt. Nur selten brechen diese Songs aus ihrem intimen Kämmerlein aus, doch Highlights wie "BedStuy" und "Two" tun dies mit sturer Konsequenz. Treibende Synthie-Flächen und wie Lichtblitze zuckende Kickdrums heben die Stücke aus ihrer endlosen Traurigkeit heraus und verhindern so, dass dieses Album zu kahl und monoton gerät.

Die wohl größte Überraschung ist aber die Tatsache, dass es sich bei "A common turn" um ein Erstlingswerk handelt. Die poetischen Lyrics, die allgemein zurückgenommene Instrumentierung, der Mut, den Stücken Raum zu geben – all das sind Qualitäten, die sich bei vielen Musikern erst nach mehreren Jahren und Alben herauskristallisieren. Savage jedoch präsentiert sich hier als eine Grande Dame der Theatralik, eine weniger gruselige Chelsea Wolfe, die Nick Cave & The Bad Seeds genauso verehrt wie die späten Talk Talk. Es bleibt zu vermuten, dass es den allermeisten gelingen wird, ein großes Maß an Unterhaltung und Freude in diesem Album zu finden – auch ohne den beiligenden Vibrator bemühen zu müssen. Und für alle anderen gilt dieses Mal endlich: Glück gehabt!

(Lars-Thorge Oje)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Corncrakes
  • BedStuy
  • Two

Tracklist

  1. A steady warmth
  2. Corncrakes
  3. Dead pursuits
  4. BedStuy
  5. Baby grand
  6. Two
  7. A common tern
  8. Chelsea Hotel #3
  9. Hotel
  10. One
Gesamtspielzeit: 47:13 min

Im Forum kommentieren

saihttam

2022-01-21 12:14:45

Lucy Kruger gefiel mir auch gut, aber nicht ganz so eindrucksvoll wie Anna B Savage.

saihttam

2022-01-21 00:27:38

Danke! Werde ich machen. Kenne ich noch nicht.

Klaus

2022-01-20 18:34:57

@saittham

Check mal als weiteren Querverweis das Lucy Kruger Album vom letzten Jahr aus.

saihttam

2022-01-20 18:12:42

Habe gerade mal reingehört nach dem Verweis von ijb im Thread zu Grace Cummings. Gefiel mir ziemlich gut. Stimmlich fühlte ich mich an Weyes Blood und Circuit des Yeux erinnert, um noch ein paar mehr Referenzen zu nennen. Instrumentierung etwas spärlicher, aber in anderen Momenten auch wieder sehr kraftvoll und ausdrucksstark. Die Wendung in Two hat mich ziemlich überrascht und verwirrt. Das muss ich auf jeden Fall noch mal hören.

ijb

2021-02-01 15:05:40

Mich erinnert das Album gar ein wenig an Scott Walker, deutlich mehr als an Aldous Harding, Talk Talk oder Nick Cave & The Bad Seeds auf jeden Fall.

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv

Threads im Forum