Kreisky - Atlantis

Wohnzimmer / Rough Trade
VÖ: 22.01.2021
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Schöner scheitern

Rätselhaftes Österreich. Da wirft eine Gruppe adretter Herren im besten Alter Jahr um Jahr die große Hitmaschine an, begeistert Kritiker*innen und zunehmend auch die Feuilletons und ist, so ehrlich muss man schon sein, doch weit davon entfernt, in bilderbuchhafte Pop-Höhen aufzusteigen. Aber sei's drum – das Kokettieren mit Unglück und Erfolglosigkeit stellt schließlich seit jeher eine verlässliche Konstante im Kreisky-Kosmos dar. In diesem wimmelt es von Losern, Versagern und Deppen, von "Veteranen der vertanen Chance", die sich mühen und plagen, im Leben nichts erreichen und daran nicht selten verzweifeln und zugrundegehen. Auf der Kehrseite stehen die Hybris und die Allmachtsfantasien derer, die beim tagtäglichen Kampf ums Dasein obenauf scheinen. "Alte Männer wie wir regieren die Welt", tönte es bereits auf dem Debütalbum des Wiener Quartetts. Rund anderthalb Dekaden später begegnen uns in "Lonely planet" erneut alte Männer, diesmal im Süden. Wie Leichen liegen sie auf der Straße, doch "machen nur Siesta". "Wem gehört die Welt? / Den Mutigen, den Blutigen / Denen, die nicht aufhören zu tanzen", heißt es jetzt gemünzt auf die jugendliche Protagonistin, die den Kontinent bereist, weil sie sich einmal so richtig frei fühlen will – und dabei allerhand durchlebt und durchleidet.

Mit "Atlantis" machen Kreisky das halbe Dutzend voll – und mit neuem Bassisten im Wesentlichen da weiter, wo sie mit "Blitz" aufgehört haben. Die Rhythmusfraktion hämmert, sägt und walzt nicht mehr ganz so ungestüm wie zu Anfangszeiten, alles klingt einen Tick differenzierter und variabler. Der Wucht tut das glücklicherweise keinen Abbruch. "ADHS" ist ein mustergültiger Kreisky-Stampfer, der sich die Kampfzone Nachbarschaft vornimmt, "ADHS" auf "Audi Q6" reimt und musikalisch zwischen irgendwie nervig und absoluter Ohrwurm changiert. Was "Atlantis" erneut eindrucksvoll unterstreicht: Die Texte von Sänger Franz Adrian Wenzl wissen mehr von der Zurichtung des Menschen im Spätkapitalismus als populärsoziologische Bestseller und jeder Leitartikel. Künstlerischer und unterhaltsamer sind sie obendrein. In "Fall fürs Jugendamt" erklärt ein Vater seinem Sohn zu Beginn, dass es mit dem schönen Leben leider nichts wird. "Daddy, what will I be? / Will I be famous, will I be rich?" Doch von wegen. "Wo denkst du hin, son – famous? Rich? / Wir haben kein Geld, du hast keinerlei Bildung / Your life will look like this." Zum The-Clash-Gedächtnisriff ziehen die Wochentage und Monate anschließend ereignislos dahin, unterbrochen nur von "ein paar Highlights im TV-Programm" und dem Termin beim Jugendamt. Und es kommt einem unweigerlich eine Zeile vom Album "Trouble" in Erinnerung: "Die, die immer gewinnen / Werden immer gewinnen / Und die, die nie gewinnen / Werden nie gewinnen."

Kreisky formulieren universelle Wahrheiten anhand konkreter Geschichten und beispielhafter Situationen, wobei sich die Auseinandersetzung mit den Zuständen in Österreich immer noch als besonders ergiebig erweist. Dass mit Land und Leuten offenkundig etwas im Argen liegt, lässt sich auch unschwer am Stellenwert des Wintersports erkennen. Schon Austropop-Papst Wolfgang Ambros setzte der wahrscheinlich beklopptesten Freizeitbeschäftigung, die Menschen erfunden haben, bekanntlich ein zweifelhaftes musikalisches Denkmal: "Schifoan is des Leiwandste / Wos mer si nur vurstoin kann". Kreiskys "Schifoan" heißt "Abfahrt, Slalom, Super-G", besitzt nicht minder großes Hitpotenzial und nimmt das alpine Verhängnis aus der Sicht eines de­lirierenden Krankenhauspatienten in den Blick. "Komm zu mir, Marcel Hirscher / Ich übergieße dich mit Milch / Damit du weich bleibst / Weich und weiß." Auch "Kilometerweit Weizen" wagt sich in extreme mentale Gefilde, kontrastiert die paranoiden Auslassungen aber mit einem fast schon schlagerhaften Refrain. Es spielen mit, in der Reihenfolge ihres Auftretens: bösartige Mähdrescher, ein verwanzter Acker und Aliens, die mutmaßlich in Frieden kommen, aber trotzdem Prügel einstecken müssen. Zweifellos abgefahren, doch das Groteske hat bei Kreisky erwiesenermaßen Methode. Die beiden für die Verhältnisse der Band untypischsten Stücke umrahmen das insgesamt nur acht Titel umfassende Album. Der titelgebende Opener ist elektro-psychedelisch angehauchter Indie-Rock in bester Urlaub-In-Polen-Manier, zu dem Wenzl mit halliger Stimme impressionistische Alltagsminiaturen vorträgt, "Wenn einer sagt" führt zurück zur Eingangsfrage und entpuppt sich wider Erwarten als gänzlich unironische, großartige Selbstermächtigungshymne. "Und wenn einer sagt: / Was du da machst / Ist der letzte Dreck / Sag: Es ist mein Dreck." Wenn so tatsächlich Scheitern klingt, dann bitte mehr davon.

(Markus Huber)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • ADHS
  • Abfahrt Slalom Super-G
  • Wenn einer sagt

Tracklist

  1. Atlantis
  2. Lonely planet
  3. ADHS
  4. Kilometerweit Weizen
  5. Abfahrt Slalom Super-G
  6. Ein Fall fürs Jugendamt
  7. Meine Zunge ist leer
  8. Wenn einer sagt
Gesamtspielzeit: 35:56 min

Im Forum kommentieren

Mclusky

2021-04-18 21:58:14

Als nächstes würde ich Meine Schuld...
antesten. Ein geiles Album.

AndreasM

2021-04-18 15:58:41

Ich bin nun mit diesem Album auch endlich mal bei Kreisky eingestiegen und haben wie erhofft, ein gutes Album vorgefunden. Hier und da ist die musikalische Umsetzung/Sound vielleicht etwas angestaubt. Aber wenn man wie ich mit deutschsprachiger Musik der 00er-Jahre musikalisch sozialisiert ist, fällt auch das nicht so schwer ins Gewicht.
Ich würde wohl bei einer 7 rauskommen und frage mich (und in di Runde) welches Kreisky-Album ich mir wohl als nächstes zu Gemüte führen sollte?

Pole

2021-02-21 13:55:30

Denkt man nur zunächst! Das Album hat bei mir völlig nachgezündet nach ein paar Durchläufen. Ist halt bewusst nicht wie Blitz (= eher Pop).

cargo

2021-01-24 11:23:50

Finde das Album wesentlich schwächer als der Vorgänger.

MM13

2021-01-24 09:03:07

das ganze album ist der hammer.

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