
Shame - Drunk tank pink
Dead Oceans / CargoVÖ: 15.01.2021
Die Unruhigen
Wir Menschen sind – ganz gleich, wie eigenbrötlerisch sich manche sehen – grundsätzlich soziale Wesen. Wer explizit unter Menschen aufblüht und nicht genug vom gemeinsamen Erleben kriegen kann, der merkt erst in Pausen oder nach den großen Sausen, was fehlt. Schon mal 14 Tage am Stück eine Jugendfreizeit betreut? Oder nach einer Woche Sziget Festival in die stille Wohnung zurückgekehrt? Ein unwirkliches Gefühl, das auch Shame-Sänger Charlie Steen beschlich, als er und seine ungestüm-talentierte Post-Punk-Band aus dem Süden Londons sich unverhofft und von einem auf den anderen Tag gezwungen sahen, die Füße stillzuhalten. Corona hat eine Lawine, die so richtig ins Rollen gekommen war, jäh ausgebremst. Dieses Bild wird vor allem in den Köpfen derer fruchten, die schon einmal in den kompromisslosen Genuss eines Shame-Konzerts kamen.
Die äußeren und inneren Umstände sind jedoch nur ein Anhaltspunkt dafür, warum "Drunk tank pink" ein auf mehreren Ebenen aufwühlendes zweites Album geworden ist. Direktvergleiche zum herausragenden Debüt der zynisch-energischen Grünschnäbel müssen natürlich erlaubt sein. Doch im Falle von Shame, die schon auf "Songs of praise" quasi noch im Teenager-Alter bemerkenswert zupackende, tanzbare und sozialkritische Post-Punk-Hits lieferten, fällt dieser Vergleich nunmehr etwas schwer. Wo "Songs of praise" auf den Punkt die juvenil geschärften Zähne fletschte und dazu im Pogo-Hüftschwung tanzte, ist "Drunk tank pink" unnahbarer, komplexer, ja, auch reifer – aber ebenso stark. Denn schon die erste Auskopplung "Alphabet" legt eine düstere Spur zum Auftakt einer Platte, die manchmal viel will, aber ebenso viel kann.
Was auffällt, ist das kompromisslose Drumming, das massive Funken auf allen Kanälen von Schlagzeuger Charlie Forbes, das ständige Unruhe entfacht. Und mal einen Tempowechsel, mal einen kompletten Bruch initiiert. Das führt dann neben offener Kinnlade auch dazu, dass ein hinten raus vertrackter Brocken wie "Born in Luton" wirklich ein paar Durchläufe braucht, bis man erkennt: Hier sitzt sehr vieles am richtigen Fleck. Und auch wenn die hittige Single "Water in the well" mit markantem Riffing und Shout-Refrain oder "March day" – vorne herum tanzbar, von hinten mehr punkiges Biest – nach Muster des Debüts punkten, ist der Reifeprozess bei "Snow day" erkennbar – diesem intensiven, kleinen Epos voller Sprünge, das den inneren Geisteszustand vereisen lässt. Und wer das Klima in England kennt, der weiß, dass hier die Seele als frostiges Wetterphänomen wirkt, welches Gitarren und Chor im Finale antreibt.
Das nachdenkliche "Human, for a minute" lässt dann beinahe echten Gesang und dezente Synthie-Harmonie zu, doch "Harsh degrees", gar ein wenig Hardcore-Spirit atmend, und "Great dog" als knackiges Punk-Brett spenden dafür doppelt so viel Wut, denn Shame bleiben unruhig. Im Vergleich zur Debüt-Melange aus Indie-Rock und Punk nährt das feine "Nigel Hitter" seine Tanzbarkeit aus The-Clash-Vibes und atmet dabei die Coolness der US-Kollegen Parquet Courts. Aber Laune? Mitnichten: "I'm burning at both ends, naturally", gibt Steen harsch zu Protokoll. Ob er da auch den nunmehr vollendeten Brexit als wenig rühmliches Dokument aktueller, rückwärtsgewandter Politik im Hinterkopf hat? Für das Soziale, den Zusammenhalt ist Abspaltung eher Gift. Sich mit "Drunk tank pink" abzuschotten, kann hingegen eine lohnende Erfahrung sein.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Nigel Hitter
- Water in the well
- Snow day
- Harsh degrees
Tracklist
- Alphabet
- Nigel Hitter
- Born in Luton
- March day
- Water in the well
- Snow day
- Human, for a minute
- Great dog
- 6/1
- Harsh degrees
- Station wagon
Im Forum kommentieren
myx
2021-01-19 17:43:26
Mich kriegt das Album noch nicht so richtig. Viel Tempo, viel Spielfreude, aber vom Hocker reisst es mich trotzdem nicht. Mal abwarten.
cargo
2021-01-19 17:11:03
Würde auch "Relatives..." empfehlen
eric
2021-01-19 16:43:50
In die wollte ich mich auch mal reinhören. Empfehlung?
Wenn Du mich fragst: "Relatives in descent". Aber eigentlich sind alle Alben stark.
The MACHINA of God
2021-01-19 16:37:34
Hat eine ähnliche Sogwirkung wie Protomartyr auf mich.
In die wollte ich mich auch mal reinhören. Empfehlung?
u.x.o.
2021-01-19 16:32:14
Der Closer fand ich anfangs auch nur "eher so okay", ist bei mir mittlerweile aber stark gewachsen. Jetzt ist das eher ein willkommenes Durchatmen am Ende eines Höllenritts. ; )
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Referenzen
Spotify
Surftipps
- https://deadoceans.com/artists/shame/
- https://en.wikipedia.org/wiki/Shame_(band)
- https://www.cargo-records.de/de/item/120244/artist/shame/artist_details.76.html
- https://www.facebook.com/shamebanduk
- https://soundcloud.com/shamebandukIhttps://twitter.com/shamebanduk
- https://www.instagram.com/shame.band
- https://www.youtube.com/channel/UCCi1cidngm8CBBHCNALP29A
- https://shamebanduk.bandcamp.com/
- https://www.discogs.com/de/artist/5427462-Shame-19
- https://www.last.fm/music/Shame
- https://www.songkick.com/artists/134405-shame
- http://www.deutschlandfunkkultur.de/britische-punk-band-shame-jeder-ist-bei-unseren-konzerten.2177.de.html?dram:article_id=402286
- https://diymag.com/2020/02/19/albums-of-2020-shame
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