Viva Belgrado - Bellavista
Aloud / Walking Is Still HonestVÖ: 30.04.2020
Von hier an frei
Verrückt: Zunächst einmal ist man fast ein bisschen enttäuscht, wenn "Bellavista" die ersten Runden gedreht hat. Dabei wäre der vorab veröffentlichte Titeltrack eine gute Warnung gewesen. Der kommt nämlich ganz ohne tief in Distortion und Schreihalsigkeit getränkte Ausbrüche aus, sondern verlässt sich einfach nur auf sein etwas nervöses Drumming und wirklich hübsches, im verhallten Hintergrund umherwaberndes Gitarrenspiel. Trotzdem hat man zu Beginn erst einmal Schwierigkeiten, das dritte Album von Viva Belgrado zu fassen zu bekommen. Weil die Kanten, an denen man sich beim Vorgänger "Ulises" noch so gut festhalten konnte, ein Stück weit abgeschliffen wurden. Weil die Spanier offensichtlich keine Lust mehr auf ihren Status als ewiger Geheimtipp haben und sich entsprechend nicht mehr auf die bewährte Dynamik zwischen laut und leise, zwischen Krach und Schönklang verlassen, sondern sich herauswagen aus Post-Hardcore-Schneckenhausen.
Und obwohl es auf "Bellavista" länger dauern mag, merkt man schon bald: Sie machen das verdammt gut. Ja, der Titeltrack mag für sich stehend ein bisschen handzahm des Weges kommen, ergibt aber zwischen dem Opener "Una soga" und "Cerecita blues" absolut Sinn. Und wenn kurze Zeit später "Más triste que Shinji Ikari" komplett aus dem Rahmen fällt, glaubt man der Band die Freude anzuhören, mit der sie den "Früher war mehr Lametta"-Schreier*innen ein dickes Brett vor den Kopf dengelt. Da nimmt man doch gerne über zwei Minuten Wartezeit in Kauf, bis die erste Gitarre sich in den Song verirrt. Neben derlei unkonventionellen Ausflügen hat die Band aber natürlich nicht vergessen, wo die bisher bekannten Kernkompetenzen liegen. Nur gepflegt werden diese eben subtiler. Mit dem Ergebnis, dass das furiose "Un collar" zunächst wütet wie ein für immer entfesselter Derwisch, nur um sich selbst nach 50 Sekunden Einhalt zu gebieten und an ein Lagerfeuer in der spanischen Pampa zu geleiten. Ohne auch nur eine Sekunde zu lang dort zu bleiben, versteht sich. Genau wie das über alle Maßen dramatische Finale.
Wer mit den Freischwimmübungen der Band aus der ersten Albumhälfte nicht so recht mitgehen wollte, ist spätestens ab diesem Moment gefangen im Sog, den "Bellavista" von nun an konsequent auslöst. "Ikebukuro sunshine" schnappt sich das neu gewonnene Selbstbewusstsein und testet aus, wie tanzbar so ein Stück Post-Hardcore eigentlich sein kann (Antwort: sehr!), "Vicios" nimmt all jene in den Arm, die sich eine ewige Fortsetzung von "Ulises" gewünscht hätten und kommt in unter zwei Minuten auf den Punkt. Und ganz ehrlich: Was Viva Belgrado dann im Anschluss abziehen, spottet jeder Beschreibung. Song für Song legt die Band eine Schippe drauf, baut Türme, die ganz Babel vor Neid erblassen lassen würden. Man höre nur, wie Viva Belgrado in "Lindavista" mit Glanz und Gloria nach vorne sprinten, wie sie das Wort Euphorie für ein paar Minuten perfekt in Musik übersetzen: ein Song, der die Sonne in Mordor aufgehen lässt. Gespielt von einer Band, die konsequent und clever genug ist, das Stilmittel nicht überzustrapazieren und den Song lieber mit einer friedfertigen Akustikgitarre und hübschen Gitarrenfiguren nach Hause trägt.
Nicht minder überwältigend: "Shibari emocional", dessen postrockige Gitarren einen nervösen Bass an die Seite gestellt bekommen, das en passant zeigt, wie gut sich die Band auch auf die ganz leisen, versteckten Momente versteht und das schließlich in ein Finale findet, das seine Hörer*inen fast erlöst. All dies serviert die Band hintereinanderweg, ohne die kürzeste Verschnaufpause. Und weil das Quartett noch lange nicht fertig ist, schiebt es ganz zum Schluss, wenn man aus dem Bauklötzestaunen ohnehin schon kaum noch raus kommt, "¿Qué hay detrás de la ventana?" durch die Tür. Fünf Minuten nimmt sich der Song Zeit, lässt aber von der ersten Sekunde an keine Zweifel daran, das gerade Großes stattfindet: ein bis unter Decke mit liebevollen Ideen vollgestopftes, auf den Punkt gespieltes Meisterwerk aus Post-Hardcore und ganz, ganz viel Postrock, das das Beste aus beiden Genres geradezu spielerisch in den Engtanz schickt. Ein beeindruckendes Statement unter ein befreiendes Album, das nur eine Frage offen lässt: Wie gut werden die noch?
Highlights & Tracklist
Highlights
- Cerecita blues
- Un collar
- Lindavista
- ¿Qué hay detrás de la ventana?
Tracklist
- Una soga
- Bellavista
- Cerecita blues
- Más triste que Shinji Ikari
- Un collar
- Ikebukuro sunshine
- Vicios
- Shibari emocional
- Amapolita blues
- Lindavista
- ¿Qué hay detrás de la ventana?
Im Forum kommentieren
SammyJankis
2021-01-23 18:55:49
Vor Jahren mal vor 20 Leuten in irgendeinem AZ oder so gesehen und für ganz gut befunden, aber nie mit beschäftigt. War richtig überraschend als ich die in irgendwelchen Jahresendlisten gesehen habe. Dachte, die hätten sich aufgelöst.
MasterOfDisaster69
2021-01-22 21:27:47
muchas gracias. muy bien.
7/10
sizeofanocean
2021-01-05 21:31:13
gut geschrieben, ein Punkt mehr hätte es sein dürfen, Jahres-Highlight 2020.
Armin
2021-01-05 20:30:24- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
"Vergessene Perle 2020".
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