Sinai Vessel - Ground aswim

Bandcamp
VÖ: 30.10.2020
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Nur ein Wort

Manchmal darf es einfach weniger sein, muss man sich im Weglassen üben. Da reicht dann schon mal ein einzelnes Wort, um einen ganzen Roman zu ersetzen und einen Raum mit Bedeutung zu füllen. Wenn man sich nur ein bisschen Zeit für vermeintliche Kleinigkeiten wie Mimik, Atmung und Intonation nimmt. Für alles eben, was dort so mitschwingt. Ob Caleb Cordes das ähnlich sieht, ist zwar nicht gesichert überliefert, sein jüngstes Schaffen als Sinai Vessel legt es aber mehr als nahe. Dabei hat die Band vergleichsweise gewöhnlich angefangen. Als Trio, irgendwo verortet im weiten Feld der Midwest-Emo-Bands, mit einem Debütalbum namens "Brokenlegged", das sich zwar ohne Zweifel zu den Guten zählen durfte, aber doch nur unwesentlich auffiel, zwischen all den Dowsings und Foxings und The Hoteliers und wie sie alle heißen. Ihr ahnt es, na klar: Das ist jetzt anders. Und wie!

Anders erst mal, weil die Sache mit dem Trio mangels verbliebener Mitstreiter*innen inzwischen Makulatur ist und Sinai Vessel nunmehr schlicht Cordes' Bühnenname geworden ist. Vor allem aber, weil Cordes sein Songwriting einmal komplett auseinandergenommen, spürbar entrümpelt und in ungeahnter Form wieder zusammengesetzt hat. Die Powerchords, die einst so oft das Fundament bilden durften, ie allzusehr nach dem Emobaukasten tönenden, in viel Hall getränkten Gitarrenfiguren, die dann und wann zur Auflockerung eingestreuten, krachigen Ausbrüche. All das wandert zu großen Teilen in die Mottenkiste. Was beileibe keinen radikalen Stilbruch nach sich zieht. Man hört noch immer, dass Cordes' Art, Songs zu schreiben am guten alten Midwest-Emo geschult ist. Nur setzt er seine Songs nun viel gedämpfter und nuancierter in Szene. Oder kurz: Es lässt vieles weg. Stehenbleiben dürfen am Ende elf Songs, live eingespielt und "Ground aswim" getauft. Songs, die bisweilen einfach nur noch Atmosphäre sind. Zum Beispiel, wenn "Ringing" mit seinem dezenten Feedback und seiner fragil gezupften Gitarre durch einen gefühlt völlig leeren Raum wabert, seine Hörer*innen geradezu einlullt und doch, oder gerade deswegen Momente schafft, die ein Gefühl von Erhabenheit in sich tragen, die die dunkelsten Stunden erleuchten können.

Oder wenn sich der Opener "Where did you go?" ein paar Sekunden bitten lässt, um dann so schlurfig ins Album zu geleiten, dass man den ollen Schleicher beinahe anschieben will. Und doch lässt man sich auf die nicht vorhandene Geschwindigkeit ein, lernt man die formvollendete Unaufgeregtheit, die wohlig an Acts wie Slaughter Beach, Dog oder Pinegrove erinnert, zu schätzen. Und schließlich ohne Kompromisse zu lieben. Man versteht schnell, dass "Ground aswim" weit mehr ist, als eine Platte aus einem lange auserzählten Genre. Weil man Probleme hat, diese 47 Minuten wirklich trennscharf in die Finger zu bekommen. Just in dem Moment nämlich, wenn man ausführen möchte, dass "Ground aswim" eben durch die Tatsache gewinnt, kein Feuerwerk abzubrennen, stolpert man über Songs wie "Fragile". Und stellt fest, dass dort eben doch ein solches gezündet wird. Ein kleines, leises, sehr privates und dafür umso nachhaltiger wirkendes. Das nicht viel mehr braucht als eine ziemlich schrammelige Gitarre und ein bestenfalls angedeutetes Finale, das sich bereitwillig als Projektionsfläche für jede Stimmmung und Phantasie anbietet, die man gerade mit sich herum trägt.

Und immer, wenn die Melange aus Langsamkeit und Reduktion droht, seine Faszination zu verlieren, zieht Cordes das Tempo beherzt an und lässt seine Songs sogar ein bisschen laut werden. Das klingt dann mal (zumindest musikalisch) überraschend positiv wie in "Birdseye", mal vergleichsweise rumpelig und ein klein wenig an Kenzari's Middle Kata erinnernd wie in "All days just end". Fertig ist man du diesem Zeitpunkt noch immer nicht: Weil "Guest in your life" nicht nur innerhalb des Genres ein strahlender Leuchtturm ist, der in seiner Langsamkeit und traumwandlerischen Harmonie alles gibt, was seine Hörer*innen brauchen. Und so pointiert auf den Punkt bringt, warum "Ground aswim" wohl das beste Album ist, das dieses Genre seit langem hervorgebracht hat: Ein Album, das als Gesamtwerk perfekt funktioniert und zugleich gespickt ist mit hervorragenden Einzelsongs. So zurückgenommen und in sich ruhend, dass man es fast zu übersehen droht, so wenig darauf aus, große Gesten zu bemühen und genau deshalb so tief unter die Haut gehend, so nah, intim, berührend und emotional. In einem Wort: brillant.

(Martin Smeets)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Where did you go?
  • Fragile
  • Guest in your life
  • Ringing
  • Antechamber

Tracklist

  1. Where did you go?
  2. Shameplant
  3. A must while so near
  4. Fragile
  5. George
  6. Birdseye
  7. Guest in your life
  8. Ringing
  9. All days just end
  10. Tunneling
  11. Antechamber
Gesamtspielzeit: 47:05 min

Im Forum kommentieren

Mic

2020-11-22 22:59:20

Der erste Song des Albums. Also kommt schon, aber da erkenne ich deutlich Strangers in Moscow von Michael Jackson.

stargOOse

2020-11-21 08:28:34

Die Platte wächst! Ich hör die 9/10 Rutscht kurz vor Jahresende noch in meine Top 10!

Hoschi

2020-11-20 08:07:37

OK, du hast recht.
Die Weakerthans streiche ich, voller Demut, aus meiner o.g. Liste :)
Danke mit dem Tipp der aktuellen Bright Eyes Platte.
Da ich aktuell eh viel und lange mit dem Rad unterwegs bin, werd ich das Album doch mal nachholen.
Wir gesagt, ground aswim ist beileibe kein schlechtes Album, und schon gar keine schlechte Musik, aber vielleicht hab ich bei der 9 einfach was anderes erwartet.
Erwartungshaltungen sind gefährlich ;)
Ich probiere es einfach nochmal... Mit einem anderen Ansatz.

MartinS

2020-11-19 21:56:27

Achso, ja das geht mir bei manchen Sachen auch so (bei den allüberragenden Weakerthans natürlich nicht ;) )
Zumindest bei der neuen Bright Eyes tendiere ich dazu, dass du was verpasst, die find ich nämlich echt gut. Und ich konnte lange nix mehr mit Conors Output anfangen so richtig.

Zum Album: Bei mir war auch "Guest in your life" der Song, wo es zuerst "klick" gemacht hat. Und dann der Opener.

Hoschi

2020-11-19 20:49:45

@ Martin
Bezüglich deiner Frage mit 2005 und 2020:
Das hat weniger mit dem Album und der Qualität der Musik selbst zu tun, sondern eher mit musikalischer Umorientierung.
Dashboard Confessional, Bright eyes, Thrice, American HiFi, Weakerthans, Cursive oder Ben Harper.
Alles Bands die ich von 1999 bis 2010 zum Teil vergöttert habe aber mit denen ich heute so gut wie rein gar nichts mehr anfangen kann.

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