Samia - The baby

Grand Jury / Membran
VÖ: 28.08.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Sie verstehen uns nicht

Erwachsenwerden ist eine heikle Angelegenheit. Die Irrungen und Wirrungen der Adoleszenz machen auch vor zwischen L.A. und New York aufgewachsenen Töchtern von Hollywood-Schauspieler*innen keinen Halt. Gut, Samia Finnerty wird es, dank Vater Dan und Mutter Kathy Najimy finanziell abgesichert und mit einem angeborenen Fuß in der Unterhaltungsbranche, etwas einfacher gehabt haben als viele ihrer Altersgenossinnen. Doch auch sie plagt sich mit klassen- und herkunftsübergreifenden Universalien herum: mit Selbstzweifeln, angeknacksten Herzen und nicht zuletzt einer gesellschaftlich immer noch präsenten Misogynie. All die Dinge eben, vor denen man sich so hilflos und verletzlich vorkommt, als wäre man auch mit Anfang 20 noch "The baby". Davon singt Samia auf ihrem passend betitelten Debütalbum, aber sie jammert nicht. Das wird schon musikalisch deutlich, wenn sie ihre folkigen Singer-Songwriter-Gerüste mit großen Pop-Hooks und einer warmen Spätsommerstimmung ausstattet. Die Produktion gönnt sich trotz aller Subtilität flexible Texturen und auch die Stimme der 23-Jährigen sprüht voller Leben ­– sie bebt vor den in alle Richtungen schießenden Emotionen, wechselt beständig den Tonfall, flüstert zurückhaltend, schreit theatralisch.

Im Kontrast zu seiner akustischen Vitalität wird "The baby" thematisch vom Tod umrahmt. "Pool" beginnt mit der letzten Sprachnachricht, die Samia von ihrer verstorbenen Großmutter erhielt, ehe die Enkelin selbst vor ihren Bindungsängsten zu kollabieren droht: "Are my legs going to last? / Is it too much to ask?" Stilistisch ist dieser mysteriöse Ambient-Strudel nicht repräsentativ für die Platte, wohl aber in seiner rohen Intimität, die das Hörerlebnis fast zum Voyeurismus macht. Als würde sie hier mitlesen, entblättert sich die Protagonistin im selbstbewussten Indie-Pop von "Fit n full" wörtlich – auch wenn sich ihr Striptease im Restaurant eher als surreale Kritik am Fitnesswahn deuten lässt. Etwas unaufgeregter, aber nicht weniger catchy groovt das tolle "Big wheel" um rissige Beziehungen, beweist dabei auch Samias Sinn für Selbstironie: "God, I'm really gonna blow with all this empathetic shit." Noch mehr empathischen Scheiß gibt es im unsicheren "Triptych" und im sexuell expliziten "Limbo bitch", das Ariana Grande wohl gerne auf ihrem eher lauwarmen "Positions" gehabt hätte. Geeint werden diese Ausflüge in so unterschiedliche Winkel des jungen Erwachsenenlebens von der immer ungefilterten Offenheit, den eingängigen Melodien und kleinen Reizpunkten in Form von Synthies oder Bläsern.

"The baby" funktioniert auch in seinen getragensten Momenten. Mit sanften Gitarrenanschlägen und einem beständigen Rhythmus bohrt sich "Stellate" immer tiefer in eine inspiriert bebilderte, gescheiterte Liebe. Das fragil schöne "Does not heal" doppelt metaphorische mit tatsächlichen Wunden, lässt die aufgeschnittene, gelb-violett zusammenwachsende Haut fast plastisch erscheinen. Kurz vor Schluss gönnt sich das Album zwei musikalische Ausreißer – den Synthie-Minimalismus von "Winnebago" und den souligen Piano-Stampfer "Minnesota" –, ehe im Closer alle Dämme brechen. Nur von einer Akustischen begleitet, erzählt "Is there something in the movies?" von der tragisch verstorbenen Schauspielerin Brittany Murphy, einer Freundin der Familie Finnerty, die der kleinen Samia einst ein Stofftier schenkte. "Everyone dies but they shouldn't die young", brüllt die Trauernde mit voller Inbrunst und bringt jeden Tränenkanal zum Platzen. Bei Tocotronic wurde den Erwachsenen noch ins Gesicht gespuckt, hier weint man um sie. Die Babys werden schneller groß, als man es ihnen zutraut.

(Marvin Tyczkowski)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Big wheel
  • Stellate
  • Does not heal
  • Is there something in the movies?

Tracklist

  1. Pool
  2. Fit n full
  3. Big wheel
  4. Limbo bitch
  5. Stellate
  6. Triptych
  7. Does not heal
  8. Waverly
  9. Winnebago
  10. Minnesota
  11. Is there something in the movies?
Gesamtspielzeit: 36:13 min

Im Forum kommentieren

MasterOfDisaster69

2020-11-19 20:57:12

stimmt schon, schöne Stimme, nette Songs, talentierte Songwriterin, nur leider gibt es gefuehlte 50.000 davon momentan.

7/10 ? (die 50000.)

Alice

2020-11-10 21:52:54

Damit habe ich nun nicht mehr gerechnet, schöne Rezension, der ich voll zustimme, auch wenn ich die Platte zwischenzeitlich aus emotionalen Gründen bei einer 8 sah.

Armin

2020-11-10 21:18:47- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

Alice

2020-10-08 16:03:54

Leute, ihr verpasst eine tolle junge Künstlerin! Talentierte Songwriterin, schöne Stimme, meine Newcomerin des Jahres mit starkem Debüt.

Hat es nicht aufs Album geschafft, aber auch toller Coming-of-age-song:
https://youtu.be/h0SxMPnJs0M

Alice

2020-09-22 17:15:26

Schönes Indie-Pop-Album, erinnert mich an Clairo, Big Thief, Florist (aber fröhlicher, poppiger). Highlights bis jetzt: Big Wheel, Stellate, is there something in the movies.

https://pitchfork.com/reviews/albums/samia-the-baby/

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv

Threads im Forum