Fates Warning - Long day good night
Metal Blade / WarnerVÖ: 06.11.2020
Zu Hause
Eine der Facetten, in der Corona unser aller Leben beeinflusst hat, ist die Arbeitswelt. Denn für viele änderte sich die Umgebung, was für manche Fluch, für andere Segen ist: hin zum Homeoffice und zu den eigenen vier Wänden. Ray Alder, Sänger der Progressive-Metal-Institution Fates Warning, sah sich in dieser Hinsicht gleich mehrfach herausgefordert. Denn nachdem klar war, dass das neue Album "Long day good night" auf jeden Fall im Jahr 2020 erscheinen sollte – Pandemie hin oder her – stellte sich die Frage, wie denn der Aufnahmeprozess vonstatten gehen würde, lebt Alder doch mittlerweile in Spanien, während der Rest der Band quer über die USA verstreut wohnt. Kein Problem zunächst – schließlich schicken viele Bands während der Aufnahmen die Songfragmente hin und her und fügen sie hinterher am Rechner zusammen. Doch da Spanien bekanntermaßen eine komplette Ausgangssperre verhängt hatte – Pendeln zur Arbeit inklusive – blieb Alder nur der temporäre Umzug in ein Studio, wo er auf einem Feldbett hauste und sich nach eigener Aussage von Fertiggerichten ernährte. Das ist wohl das, was man auf Neudeutsch "Commitment" nennt.
Nun ist der Songwriting-Prozess bei Fates Warning ohnehin so aufgeteilt, dass Alder alleine für die Lyrics verantwortlich zeichnet, während die Kompositionen vor allem in der Hand von Gitarrist Jim Matheos liegen. Insofern wird schnell klar, dass die erschwerten Umstände wenig bis keine Auswirkungen auf die Qualität der Songs haben dürften. Ganz im Gegenteil. Der Opener "The destination onward" ist dabei zunächst ein typischer, na ja, Opener, der zunächst einen dezenten Teppich aus Soundscapes auslegt, die Spannung langsam hochfährt, bis das Stück nach drei Minuten in feinsten Prog-Metal eskalieren darf. Keine Ahnung, wie oft man das unter dem Kopfhörer hören muss, um jedes noch so kleines Detail zu erforschen, bislang ist die Suche noch nicht zu Ende. Erst recht nicht, wenn daraufhin "Shuttered world" das erste Mal für ergriffenes Staunen sorgt. Feinste Gitarrenarbeit paart sich mit druckvollem Schlagzeugspiel, und über allem thront ein Refrain, der seinesgleichen sucht. Ja, auch im Vergleich zum erlesenen Backkatalog.
Doch Fates Warning waren noch nie auf übermäßige Frickeleien angewiesen. Das größte Pfund der Amerikaner bestand und besteht darin, dass sie kaum eine andere Band Atmosphären kreieren können. "Alone we walk" ist so ein Song, vor allem jedoch "The way home", das als ruhige Ballade beginnt und anschließend in einen Midtempo-Part mündet, der so problemlos auf einem Album wie "Parallels" oder "Perfect symmetry" Platz finden könnte. Das soll jedoch nicht heißen, dass die Band vor Experimenten zurückschrecken würde: "When snow falls" überrascht mit elektronischen Elementen und spannenden Arrangements, die stellenweise Assoziationen an Porcupine Tree wecken. Vielleicht auch dadurch unterstützt, dass hier nicht Bobby Jarzombek, sondern eben der Porcupine-Tree-Drummer Gavin Harrison am Schlagzeug sitzt.
Einzig der Longtrack "The longest shadow of the day" will da nicht ganz mitspielen, wenn auch nur um Nuancen. Klar ist das noch immer Prog-Metal der Oberklasse, doch leider misslingt im Mittelteil ein Übergang dergestalt, dass man zunächst verwundert nachschaut, ob der nächste Song nicht doch schon begonnen hat. Doch jener könnte, wenn man manche Interview-Aussagen von Alder und Matheos vernimmt, eine Bedeutung erhalten, die kein Fan wirklich hören mag. "The last song" heißt diese Ballade, und sie ist nicht weniger als ein bittersüßer Rückblick auf die Karriere der Band, die von künstlerischen Höhen und kommerziellen Tiefen geprägt war. Wenn dem wirklich so sein sollte, dann gelingt Fates Warning etwas, was nicht vielen vergönnt ist: Diese Band, die so viele andere inspiriert hat, die das Genre auf ihre unnachahmliche Weise geprägt hat, würde mit einem Meisterwerk abtreten.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Shuttered world
- Alone we walk
- The way home
- The last song
Tracklist
- The destination onward
- Shuttered world
- Alone we walk
- Now comes the rain
- The way home
- Under the sun
- Scars
- Begin again
- When snow falls
- Liar
- Glass houses
- The longest shadows of the day
- The last song
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Watchful_Eye
2020-11-11 00:13:56
Wieder mal ein starkes Album, auch wenn es, wohl aufgrund der Überlänge, in der zweiten Hälfte ein paar unspektakulärer Songs gibt. Soundmäßig ist das generell alles sehr konservativ gehalten, und eher Rock als Metal.
Wer die Band als öde Altherrenkapelle über dem Zenit empfindet, den wird dieses Album nicht umstimmen. Ich als Langzeit-"Fan" finde allerdings auch Gefallen an dieser routinierten, bodenständigen Unaufdringlichkeit.
Und "The Way Home" für mich ist eines ihrer besten Songs der letzten 20 Jahre.
Analog Kid
2020-11-10 22:47:59
Soll das wirklich ihr letztes Album sein? Wär ja schon ein bisschen sad.
Habs in ihrer Diskographie ja leider immer noch nicht großartig jenseits der 00er Jahre geschafft. Die "Disconnected" find ich jedoch schon mal super. Restliche Alben kommen noch ran.
Armin
2020-11-10 21:16:20- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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