Sorry3000 - Warum Overthinking Dich zerstört

Audiolith / Broken Silence
VÖ: 16.10.2020
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Verpeiltheit als Chance

Kann man sich nicht ausdenken: Stefanie Heartmann, Frank Leiden, Bianca Stress und Joni Spumante gründen eine Band, die wie eine retrofuturistische Telefonseelsorge heißt. Aber Achtung: Beim Quartett aus Halle an der Saale ist das alles genau so gewollt. Selbst das Pseudonym von Sängerin Stefanie, die auch in Corona-Zeiten nicht anders kann, als das Herz auf der Zunge zu tragen. Ihr Freund in "Nasenspray" wird es ihr danken, wenn sie sich Sorgen um ihn macht. Nach etlichen leeren Schnupfenmittel-Behältern, schleimigen Taschentüchern und ruinöser Popelei stand nämlich die schniefige Single mit diesem Titel – ein nur aufs erste Ohr fröhlich dilettierender, tatsächlich aber großartig harmonieseliger Synth-Pop-Ohrwurm, der aus jeder geschmackssicheren End-Ausscheidung als Sieger hervorgehen dürfte. Can you keep a Sekret? Nein, dieses bitte nicht.

Denn wie könnte man einen so swingenden Hit verachten, der die legitime Nachfolge der knuffigen, aber aufgelösten Ekelpaketchen Schnipo Schranke antritt? Und wer nur eine klitzekleine Zuneigung für liebevoll gemachten Trash hegt, wird dank "Warum Overthinking Dich zerstört" auch bald auf den Trichter kommen, dass The Toten Crackhuren Im Kofferraum zumindest bei "Klaus" und auf "Bitchlifecrisis" so übel nicht waren. Im Grunde hätten Sorry3000 ihren selbstdiagnostizierten Real-Pop auf dem Debüt mit dem hipsternden bis prokrastinierenden Überbau also genauso gut nach jeder anderen Discounter-Kette benennen können. Nur: Warum das alles? Die ölig sprotzenden Synthies, ständig in den Mix hechtenden Schreng-Gitarren und die NDW-Diktion, zu der man früher wohl "aufmüpfig" gesagt hätte? Wozu die Achtziger, Neunziger und das Schlimmste von heute?

Natürlich, weil es schön ist. Was jeder bestätigen wird, dem auffällt, dass David Guetta und Sia für "Let's love" die Basslinie von Pat Benatars "Love is a battlefield" gemopst haben. Umso wunderbarer, wenn ein Stück wie "Tarifgebiet" an ähnlicher Stelle ansetzt und das Jahrzehnt der Plastikmusik mit den sozialen Realitäten innerhalb des heimischen ÖPNV-Netzes zusammenbringt. Der schlonzige Rock-Shuffle zitiert Spider Murphy Gang, kotzt sich über Nazis aus wie Deutsche Laichen – und kriegt doch mühelos die Kurve zu einem versöhnlichen Singalong, in dem sich Heartmann endgültig als grundgute Gefühlsmenschin entpuppt. Schlechtes Party-Benehmen im einminütigen Opener "Vorstellung", die pöbelige Electroclash-Bombe "Scapegoat" oder das ungelenke Aneinanderwanzen von "Dirty Talk" hin oder her. Verpeiltheit als Chance. Für die Liebe, versteht sich.

Mithin gibt sich "Warum Overthinking Dich zerstört" so liberal wie tröstlich, feiert sowohl Initiative als auch Slackertum und verlegt die "Fitness" mit den Worten "Mach mit, wenn Du auch fit bist / Wenn Du nicht fit bist, machst Du halt nicht mit" auch musikalisch schulterzuckend an die Atari-Konsole. Dass der Lover "Zu schwach" ist, konstatiert eine gekippte Halbballade genauso klaglos, wie "Du liebst mich nicht" fehlendes Politik-Interesse als Trennungsgrund abnickt. Und wie der verzagte Frank Leiden nach der Namensänderung in "Franky" aufblüht, kann dieser formidable Käse-Blues samt Bläsern lediglich anreißen. Aber Hauptsache, "Steffy Love" ist am Ende der Satz "Als Reisender im ICE tut Sachsen-Anhalt niemand weh" näher als "Wir sausen auf der Koppel rum, in China fällt ein Reissack um." Und Mitgefühl ist auf diesem tollen Album nicht nur ein Wort. Aber auch.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Fitness
  • Nasenspray
  • Tarifgebiet
  • Franky

Tracklist

  1. Vorstellung
  2. Fitness
  3. Die Stadt ist schöner
  4. Nasenspray
  5. Scapegoat
  6. Dirty Talk
  7. Tarifgebiet
  8. Neustadt
  9. Zu schwach
  10. Portwein
  11. Franky
  12. Du liebst mich nicht
  13. Steffy Love
Gesamtspielzeit: 44:11 min

Im Forum kommentieren

AliBlaBla

2020-10-30 19:01:06

Deutsch, Wanderjunge Fridolin?
Muss ja nicht per se schlecht sein (Fehlfarben, Ideal, Die Heiterkeit, Ja Panik)
Ich finde gerade die SPRACHE extrem jut eingesetzt. Und: tolle Stimme!

Der Wanderjunge Fridolin

2020-10-30 16:10:15

Hab mal aus Jux reingehört. Ist tatsächlich ganz okay. Aber eines ist mir als alter (saualter!) Waver aufgefallen: Man muss heutzutage ja schon irgendwie die völlig abwegigen Randthemen abhandeln, will man nicht das wiederholen, was schon vor 30 Jahren zu genüge thematisch abgefrühstückt wurde. Klingt auch insgesamt sehr Deutsch. Ist das was Gutes? Weiß nicht. Aber man muss ja froh sein, dass die heutige Jugend sich überhaupt noch irgendwie musikalisch engagiert :)

AliBlaBla

2020-10-30 14:50:21

Leude, ich feier die so!
Und: das ist KEIN Dilettantismus, oder "Ironie", ...die starten einfach unmittelbar durch🚀👾🌈
Endlich was Tröstliches in doofen Zeiten..

Dorfnerd

2020-10-29 19:57:14

Ist das geil. Danke für den Tipp!

Hier stand Ihre Werbung

2020-10-29 09:33:00

Wunderbar bekloppt. Kennt man eigentlich Jakob Bienenhalm?

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