Marie Davidson & L'Œil Nu - Renegade breakdown

Ninja Tune / Rough Trade
VÖ: 25.09.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Die Party-Crasherin

Marie Davidson hat keinen Bock mehr auf Clubs. Das ist so semi-optimal, wenn man hauptberuflich Clubmusik macht. Deshalb macht Marie Davidson jetzt keine Clubmusik mehr. Plausibel, oder? Dass die frankokanadische Techno-Produzentin ihrem Metier nun endgültig den Rücken kehrt, überrascht jedenfalls wenig: Schon 2016 deklarierte sie "Adieux au dancefloor" per Albumtitel und auf "Working class woman" ging es um kaum etwas anderes als um die mentalen Entbehrungen der Clubszene. Es waren ebenjener Tourstress und die damit einhergehende Dauer-Isolation, die Davidson schließlich zum radikalen Umschwung in Stil und Arbeitsweise bewegten. Sie schnappte sich ihren Ehemann Pierre Guerineau und den gemeinsamen Freund Asaël R. Robitaille, um eine Band namens L'Œil Nu (auf Deutsch etwa "das bloße Auge") zu gründen. Auf seinem Debüt "Renegade breakdown" zelebriert das Trio einen kuriosen Mix aus Euro-Pop, akustischen Halbballaden und anderweitigen Obskuritäten, der Fans wie Festival-Booker gleichermaßen die Stirn runzeln lässt. Das ist freilich so gewollt, verabschiedet sich Davidson ja nicht von den kapitalisierten Tanzflächen dieser Welt, ohne ihnen einen saftigen Stinkefinger zu hinterlassen: "Your party sucks anyway."

Ironischerweise nähert sich der eröffnende Titeltrack, aus dem jenes Abrechnungsmanifest stammt, noch am meisten dem früheren Schaffen der 33-Jährigen an: Über Synthwave-Anleihen und Slap-Bässen sprechsingt Davidson mit gewohnt trockener Zunge und gönnt sich ein paar astreine Four-to-the-floor-Ausbrüche. Doch drei Stücke später läutet das erstaunlich organische – und erstaunlich schöne – "Center of the world (Kotti blues)" mit folkigem Gitarrenperlen den Herbst ein. Wie zur Hölle sind wir hier gelandet? Eine Antwort im Sinne eines klaren musikalischen Spannungsbogens gibt es nicht, auf "Renegade breakdown" klingt schlicht kein Song wie der vorige. Einen roten Faden stellen einzig die Texte her, die stets um reisebedingte Entfremdung und Heimweh kreisen. "I keep my fingers crossed as the plane is taking off / I'm feeling kind of lost", klagt die Protagonistin in "Back to rock", einem siebenminütigen Strudel aus dramatischen Hardrock-Sechssaitern und scheppernden Drums. Später weicht der Sturm in "Just in my head" einer beckenstreichelnden Lounge-Jazz-Resignation, doch Davidson wälzt sich weiterhin in ihrer Sehnsucht: "I've met so many faces, they just made me want you even more."

Es beeindruckt, wie unmodern die Band auf dem ganzen Album agiert und dabei auch nicht vor Camp zurückschreckt. Das herrlich billig und verstaubt klingende "C'est parce que j'm'en fous" hüpft munter zwischen French- und Italo-Disco umher. Mit "La ronde" und dem orchestralen Closer "Sentiment" trägt die eigensinnige Künstlerin zwei komplett unironische, geschmackvolle Chansons vor. Die Verwirrung komplett macht das mysteriöse "Lead sister": Lieblicher Gesang trifft auf dunkle Dissonanzen und kippt in eine Soundtrack-artige zweite Hälfte, die mit Synths, Piano und Herzschlag-Beat eine unheimliche Bildgewalt entfaltet. Geschenkt, dass die Platte manchmal – etwa im Ambient-Folk von "My love" – mit ein paar Überlängen zu kämpfen hat, so viel Laune macht sie in all ihrer Unvorhersehbarkeit. Dazu passt auch, dass der Abschied vom Dancefloor nicht konsequent geschieht, gehört der grandiose Synth-Funk-meets-Electro-Rock-Stampfer "Worst comes to worst" absolut auf denselben. "Renegade breakdown" ist letztendlich mehr als nur ein "Fuck you" in Richtung Dance-Szene und Musikindustrie: Es ist ein Eisschmelzer für die Kunstfigur Marie Davidson, die losgelöst von allen Erwartungen und Trends ihrem Kreativgeist freien Lauf lässt. Sie mag vielleicht keinen Bock mehr auf Clubs haben, doch ihre Lust auf Musik schien nie größer.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Worst comes to worst
  • Center of the world (Kotti blues)
  • Lead sister

Tracklist

  1. Renegade breakdown
  2. Back to rock
  3. Worst comes to worst
  4. Center of the world (Kotti blues)
  5. La ronde
  6. C'est parce que j'm'en fous
  7. Just in my head
  8. Lead sister
  9. My love
  10. Sentiment
Gesamtspielzeit: 52:50 min

Im Forum kommentieren

Christopher

2020-12-29 18:39:57

Durch Zufall via Spotify neulich entdeckt. Cooles Album.

humbert humbert

2020-10-27 23:47:20

Gute Frau, gutes Album. Das letzte habe ich so bisschen schräg in Erinnerung. Schön, dass das hier besprochen wird.

Armin

2020-10-07 20:25:52- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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