Tigran Hamasyan - The call within
Nonesuch / WarnerVÖ: 28.08.2020
Kernfusion
Der armenische Ausnahmepianist Tigran Hamasyan überbrückt seit mehr als zehn Jahren westliche Jazz-Tradition und armenische Folklore zu einer rockenden Melange, die ihresgleichen sucht. Er interessiert sich nicht für Genre-Konventionen oder für die Ansprüche, die die Musik seines Heimatlandes, die amerikanische Jazz-Szene oder die nerdige Djent-Community an ihn stellt. Er weiß ganz genau, wie das Spannung-Entspannung-Spiel läuft und wirft es ununterbrochen über den Haufen, biedert sich nie Klischees an, unterwandert konsequent die Erwartung seiner Hörer. Die Musik folgt virtuos seiner eigenen Vision, seinen eigenen Regeln.
Und so hält sich sein neues Album "The call within" von Beginn an nicht zurück, steigt in "Levitation 21" mit einem irren 16/21-Groove ein, über den Hamasyan ganz lässlich und scheinbar mühelos seine Pianofiguren schüttelt – bevor er in heftiges Riffing übergeht. Hamasyan rockt so hart und komplex daher, dass Meshuggah auf einmal ganz alt aussehen. Doch ist das kein Show-off-Gehabe. Im Gegenteil, trotz all der rhythmischen und harmonischen Komplexität strahlt das Stück – wie alle Kompositionen auf dem Album – eine Spielfreude aus, verliert nie seinen melodischen roten Faden. Arpeggierte Akkorde, bleischwere Riffs und jede Menge Hakenschläge machen den Track zu einer wahnwitzigen Achterbahnfahrt. "Our film" tritt nach der Tour de Force des intensiven Openers erst einmal auf die Bremse und leitet einen sanft durch armenische Folklore und Electronica, ist Balsam für die aufgewühlte Seele. Nachdem die Kraft wieder gesammelt wurde, wartet Hamasyan gegen Ende noch mit einem Piano-Djent-Breakdown auf, dass einem glatt die Kinnlade runterklappt.
"Ara resurrected" ist dann wieder astreiner Prog-Jazz. Ein zu Beginn eingeführtes Grundmotiv wird im Laufe der nächsten acht Minuten auf allen erdenklichen Wegen erforscht: Vertrackte Polyrhythmen, hektische Tempowechsel, Riffwalzen, zarte Piano-Interludes, Reibung und Auflösung, Variation und Metamorphose dominieren diese Reise durch die (dis)harmonischen Grenzgefilde. Am Ende des Tracks wird die Frage, ob das Jazz oder Metal ist, schlicht obsolet. "The dream voyager" vertont die melodischen Wurzeln seiner Heimat und überführt sie in unbekannte Territorien, "Old maps" ist eine melodische Vorwehe des abschließenden Liedes des Albums. In "Vortex" erscheint der legendäre Gitarrist Tosin Abasi von Animals As Leaders als Cameo, was in Fan-Kreisen beider Künstler ein kleines Erdbeben der Euphorie auslöste. "New maps" beschließt das Album mit einem letzten epischen Paukenschlag. Die Art und Weise, wie sich die Komposition aufbaut, in sich zusammenfällt und schließlich im furiosen Finale variiert wird, beeindruckt und berührt gleichermaßen. Das ist melodisch berauschend, rhythmisch mitreißend und setzt ein klares Ausrufezeichen als Schlusspunkt.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Levitation 21
- Ara resurrected
- Vortex
- New maps
Tracklist
- Levitation 21
- Our film
- Ara resurrected
- At a post-historic seashore
- Space of your existence
- The dream voyager
- Old maps
- Vortex
- 37 newlyweds
- New maps
Im Forum kommentieren
Dasc
2022-12-16 03:17:31
Da bin ich ein bisschen neidisch drauf. Ich hab ihn erst durch die Rezension hier kennengelernt.
Watchful_Eye
2022-12-15 17:56:40
Ich bin neidisch :-)
Ich hatte ihn zur "An Ancient Observer"-Tour alleine am Piano erlebt und da war er auch großartig.
Dasc
2022-12-15 15:55:45
Um die (sehr kurze) Diskussion nochmal aus der Versenkung zu holen: ich war letzte Woche auf einem Tigran Hamasyan Konzert und es war unglaublich beeindruckend, wie die mit Klavier, Bass und Schlagzeug das ganze Album in Extended Cut runtergespielt haben. Für mich klangen viele Details live noch wesentlich spannender, als auf dem Album. Vor allem, wie präzise auf die Millisekunde die trotz der rhythmisch hochkomplexen Figuren eingespielt waren. Und insgesamt kamen viele Stellen noch rockiger rüber. Das Konzert war nur 90 Minuten lang inklusive Zugaben, aber nach der durchgängig hohen Intensität und Energie kann ich das nur verstehen. Jetzt muss ich meine Wahl zum besten Livekünstler dieses Jahres noch einmal überdenken.
nörtz
2020-09-26 16:49:45
Album der Woche wäre schon drin gewesen.
kingbritt
2020-09-24 18:52:16
. . . schon ein feiner Hexenmeister in seiner eigenen Küche. Kein Brad Mehldau, kein Esbjörn Svensson, ne Stefan Rusconi, tja schwer einzuordnen. Das ist schon mal sehr gut. Am ehesten wegen seiner harten rhythmischen Anschläge, ja, the Bad Plus fielen mir da ein.
Ganz eigener Kopf, klassische Ausbildung hört man hier wenig raus. Mir gefällt's. Prog-Jazz auch ne lustige Bezeichnug. Eher EthnoJazzCrossoverPianoFusion.
Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.
Referenzen
Spotify
Threads im Forum
- Tigran Hamasyan - The call within (9 Beiträge / Letzter am 16.12.2022 - 03:17 Uhr)