The Flaming Lips - American head
Bella Union / [PIAS] Cooperative / Rough TradeVÖ: 11.09.2020
Unfug the world
Pinke Roboter, Götterdämmerung oder gar Übertragungen mitten aus dem Satellitenherz: The Flaming Lips waren alles, nur nicht von dieser Welt. Oder wie es der Plattentests.de-Chef ausdrücken würde: "Mit dem Kopf in den Wolken, mit den Füßen im Erdkern mitten in der brodelnden Lava, mit dem Hirn im Mixer auf 180 und mit den Fingern im Krater vom Mann im Mond." So ungefähr klangen auch teils die abstrusen Zwischenexperimente, die in ihrer Anzahl zwischen den regulären Studioalben stetig wuchsen. Ein gelungenes Hörspiel wie "King's mouth" durfte neben einem völlig missratenen Beatles-Coveralbum stehen. Dazwischen fand "Oczy mlody" zwar seine Fans, war aber mindestens umstritten. Mit "American head" soll laut Wayne Coyne alles anders sein. Inspiriert durch Tom Pettys Tod 2017, verstehen sich The Flaming Lips zum ersten Mal explizit als amerikanische Band. Und suchen ihr Heil in dem Sound, der sie in Amerika so groß machte. In einem Moment, in dem das Jetzt die Köpfe erdrückt, schaut die Truppe zurück. Es ist die richtige Medizin.
Coyne beschreibt ihr 16. Album als eine "fucked-up hippie version of Bruce Springsteen writing about his home town". Und besser kann man diese drogengeschwängerten Berichte, Erinnerungen oder alternativen Handlungsstränge aus der Kindheit und Jugend wohl nicht zusammenfassen. So durfte der neunjährige Sohn eines Tontechnikers, der vermutlich vor zwei Jahren noch Dinosaur Jr. gehört hat, der Band die Idee geben, einen Song über Dinosaurier zu schreiben. Das Resultat namens "Dinosaurs on the mountain" vergleicht die ausgestorbenen Reptilien mit den Umrissen von Bäumen bei einer nächtlichen Autofahrt und findet dazu eine der schönsten Melodien im Œuvre überhaupt. Überhaupt steckt "American head" voller wundersamer Harmonien und Glücksmomente, welche die klangliche Distanz der Vorgängeralben durch eine melancholische Nähe ersetzen.
Dazu passt, dass Coyne seine Texte wieder introspektiver und kindlicher formuliert, inspiriert von früheren Erlebnissen. Gerne auch mit Fantasie angereichert wie in dem Moment, wenn sich der Frontmann den Ausgang eines Überfalls auf ein Fast-Food-Restaurant, in dem er damals arbeitete, anders ausmalt. "Mother, please don't be sad / It's only me that's died tonight / There's so much you still have / Remember all the others that are still alive." Zuvor zieht der andere Song an die Mama weitere Tränen. Aus der simplen Beichte "Mother I've taken LSD" wird ein geigenverhangener Ausbruch an Weltschmerz: "Now I've seen the sadness in the world / I'm sorry I didn't see it before." Schnüff. "American head" hält nichts zurück. Es trägt dick auf, die spacigen Krautrock-Ausflüge von "Embryonic" sind vergessen, die Coolness-Anwandlungen von "Oczy mlody" ad acta. Exemplarisch steht dafür, dass der wunderbare Opener "Will you return / When you come down" gerade eine Sekunde Noisedröhnen andeutet, um dann doch die schönere Abfahrt zu nehmen. Es ist pure Gefühlsessenz.
Dennoch nehmen die 13 Stücke nicht immer die einfache Abzweigung. Zwei Instrumentals sind mit dem hübschen "Watching the lightbugs glow" sowie dem wah-wah-igen und an "The terror" erinnernden "When we die when we're high" auf der Platte verteilt, beide nach Zitaten aus einem Nachbarsong benannt. "Brother eye" ist das in sich gekehrte Herzstück, das mit traurigem Fiepsen und der bittenden Frage "Can you live forever?" die Seele berührt. Das komplexe "Assassins of youth" ist ein spätes Highlight, gegen die Brutalität der Welt und trotz einer sehr prominent galoppierenden Akustischen in entsprechend dunkler Couleur gehalten. Auf ein dramatisches Finale steuert er zu, nur um kurz später doch in ruhigen Gewässern zu landen. "I was young yesterday / But now everything has changed after today." Einzig das im Titel den Inhalt vorweggebende "You n me sellin' weed" verzettelt sich trotz schöner Melodie etwas in seinen Tempo- und Genrewechseln zwischen Dreampop, Country-Antäuschung und stotterndem Beat. Hier wäre weniger mehr gewesen.
Natürlich darf man all das naiv finden. Bekenntnisse wie "I don't need no religion / You're all I need / You're the thing I believe in / Nothing else is true / My religion is you." Die schwurbeligen Pathos-Spielereien, auf die jedes Disney-Orchester neidisch wäre. Und womöglich findet man die teilweise Rückkehr zum Fan-Favoriten-Stil um die Jahrtausendwende mit allen Band-Trademarks auch etwas kalkuliert. Das ist zum einen nicht ganz richtig, weil "American head" trotz allem – und vielleicht durch das geänderte Selbstverständnis – einen eigenen Vibe versprüht, der noch nie so nostalgisch und selten so nahbar bei der Band zum Ausdruck kam. Zum anderen wäre es auch völlig egal, weil The Flaming Lips schlichtweg atemberaubend schöne Songs geschrieben haben, ohne dabei die Flausen im Kopf ganz an den Nagel zu hängen. Auch als neu gefundene amerikanische Band. Schließlich ist Mitgefühl und Nächstenliebe in den USA gerade viel dringender nötig als beim Mann im Mond.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Flowers of Neptune 6
- Dinosaurs on the mountain
- Mother I've taken LSD
- Assassins of youth
Tracklist
- Will you return / When you come down (feat. Particle Kid)
- Watching the lightbugs glow
- Flowers of Neptune 6
- Dinosaurs on the mountain
- At the movies on quaaludes
- Mother I've taken LSD
- Brother eye
- You n me sellin' weed
- Mother please don't be sad
- When we die when we're high
- Assassins of youth
- God and the policeman (feat. Kacey Musgraves)
- My religion is you
Im Forum kommentieren
The MACHINA of God
2022-02-13 16:54:04
Und nochmal großes Lob für die angemessen schöne Rezension.
The MACHINA of God
2022-02-13 16:36:34
Ich liebe dieses Album. Drei der schönten Refrains aller Zeiten auf einem Album muss man auch erstmal schaffen. 8,7/10
Felix H
2021-03-26 11:44:21- Newsbeitrag
The MACHINA of God
2020-12-31 16:19:32
Jahresendbetrachtung:
Herzensband Nummer 2, die dieses Jahr begeistert hat. Bereits “Dinosaurs on the mountain” mit seinem göttlichen Refrain ließ vorher erahnen, dass hier wieder fantastische Melodien kommen würden. Und so war es dann auch. Dass es sogar einen noch bewegenderen Refrain geben würde (“Assassins of youth”) ist schon eine Leistung an sich. Aber auch der Rest des Albums ist eine musikalische Umarmung, die genau zur richtigen Zeit kam. Keine Band schafft es für mich, aus den traurigen Dingen des Lebens die Schönheit des Lebens zu ziehen, auf diesem Album speziell die genannten Songs sowie “Mother I’ve taken LSD” und “Mother please don’t be sad”. Am Ende wird dann doch was von denen auf meiner Beerdigung laufen. 8,5-9/10
The MACHINA of God
2020-11-17 23:42:19
Ich würde den "The terror"-Halbsatz rausnehmen und 2-3 Kommastellen höher andieseln, aber ansonsten große Zustimmung.
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