Helge Schneider - Mama

Roof / Rough Trade
VÖ: 28.08.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Alternative Fakten

Wenn man eine Rezension über Helge Schneider schreibt, kommt man leicht ins Fabulieren. Der Mülheimer ist halt ein Pfeiler der Pop-Kultur, ein Spiegel der Geschmäcker. Man möchte sie noch mal aufs Tapet holen, die Anfänge, als Helge mit Tante Erna auf Jamaica Urlaub machte und von niemand Geringerem als Bob Marley vom Fleck weg für seine Welttournee 1974 als Kombüsenchef engagiert wurde. Marley lernte das leckere Käsebrot lieben, benannte gar sein nächstes Album nach diesem "Natty bread". Zehn Jahre später war Schneider wieder am Puls der Zeit. Als Au Pair weilte er in Oxford, machte zwei seiner dortigen Freunde miteinander bekannt und jene, Thom Yorke und Jonny Greenwood, gründeten eine nicht ganz unbedeutende Band. Ja, wo Helge was drehen konnte, war er zur Stelle. Und da war es auch kein Wunder, dass er ab den Neunzigern vermehrt ins Filmgeschäft einstieg. Er spielte Bond, er spielte Hitler, er spielte Rosa Luxemburg. Den Oscar für letztere beide Rollen lehnte er bekanntlich ab, Flug zu teuer. Doch auch die eigene musikalische Laufbahn wollte vorangetrieben werden. Neben einem Engagement als Saxofonist für Prince und Bowie ragt natürlich die Hymne "Barcelona" mit Montserrat Caballé heraus.

Doch der Kern von Helge Schneider befand sich immer auf den eigenen Alben. Musikalisch im Bereich Könner-Jazz angesiedelt, behandelten diese brennend heiße Themen wie artgerechte Tierhaltung, häusliche Gewalt in der Vogelwelt oder auch die richtige Ernährung. Helge gab vor, was Politiker und Öffentlichkeit dann dankbar aufgriffen. Und nun also wieder ein Studioalbum des Mannes aus Wolle. "Mama" heißt es, kann großzügig als Alterswerk Schneiders bezeichnet werden und erschafft ein Bild vom Künstler, wie es lebendiger nicht sein könnte.

Die erste Wasserstandsmeldung: "Heute hab ich gute Laune." Liebeleien und Essen führen zum seelischen Wohlstand, es swingt, das Glockenspiel jubiliert in dezenter Ekstase und der Groove des Schlagzeugs infiziert die Menschen mit Tanzlust. Derart mitreißend und zugänglich klang Schneider lange nicht mehr, statt komplizierter Klangarchitekturen setzt es die direkten Treffer. Rührend auch das bluesige Titelstück mit der "Mama" als Anker und Leitstern, als verständnisvolles Ruhekissen, "Ich fand alles / Alles / Bis auf Malen Kacke." Dass Helge daraus eine Bilanz des eigenen Werdegangs ableitet, zeugt vom narrativen Talent des Dylan aus dem Ruhrpott. Doch wo jener in einer blasierten Blase lebt, ist der Schneider nahbar bis zur Selbstverleugnung. Andere veranstalten Charity-Auktionen – hier, mein erster Tennisschläger, da, meine Lieblingsschallplatte –, aber Helge geht weiter: "Ich setz mein Herz bei E-bay rein." Das Höchstgebot liegt aktuell bei 236 Mark, abgegeben, so munkelt man, von Ornella Muti, weil sie die Trennung nach vier wilden Monaten Ehe nie verwunden hat.

Doch man muss unbedingt über die musikalische Ausgestaltung reden. Schneider spielte sämtliche Instrumente im Alleingang ein, es lodert mit feiner Instrumentierung beschwingt vor sich hin, die Melodien sind klar und eindeutig und trotzdem ist noch Platz für spektakuläre Verspieltheiten. Das gefühlvolle Picking der Gitarre im Country-Koloss "Der müde Reiter" – der alte Wegbegleiter Gunter Gabriel winkt aus dem Hintergrund – ist genauso authentisch wie die Kathedrale der Isolation in "Forever at home". Hier fühlt man mit, hier bangt man um das Wohl des bärtigen Granden, nie lässt einen etwas unberührt. Aber am eindringlichsten skizziert Schneider mal wieder Liebesleben und Alltagssituationen seiner Charaktere. Die Strip-Bar der Nacktkünstlerin "Roswitha" scheint im tiefsten New Orleans zu stehen, Bläser und Orgeln sorgen für ein atmosphärisch knisterndes Rotlicht. Auch das liebestrunkene Geschunkel von "Liebe im Sechsachtel-Takt" oder die "Samba in der Nacht" vermitteln weltmännische Sehnsüchte, doch eben so, dass ein jeder Daheimgebliebene Anschluss findet. Und so hat Helge Schneider seine ganze Weltkarriere in ein einziges Album fluten lassen. Ein Triumph aus Cord und Frottee.

(Martin Makolies)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Heute hab ich gute Laune
  • Mama
  • Ich setz mein Herz bei E-bay rein
  • Liebe im Sechsachtel-Takt

Tracklist

  1. Heute hab ich gute Laune
  2. Mama
  3. Ich setz mein Herz bei E-bay rein
  4. Beim Frisör
  5. Der müde Reiter
  6. Forever at home
  7. Der Boss
  8. Der Geburtstagskuchen
  9. Roswitha
  10. Peters Raumpatrouille (Space patrol)
  11. Die neue Mode
  12. Liebe im Sechsachtel-Takt
  13. Samba in der Nacht
  14. On the set
Gesamtspielzeit: 45:40 min

Im Forum kommentieren

Cade Redman

2020-11-04 12:16:38

Toll, wie er es ganz alleine geschafft hat, es so klingen zu lassen, als würde eine ganze Band locker leicht daher improvisieren.

hallogallo

2020-09-03 12:59:55

Ein schönes, warmes Album, das seine alten Qualitäten zum Vorschein bringt. Hätte ich gar nicht erwartet.

Highlights:
Mama
Der müde Reiter
Der Boss

Kernone

2020-08-31 11:07:09

Helge bringt es mal wieder auf den Punkt. Sehr schön!

Armin

2020-08-30 19:31:08- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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