Julianna Barwick - Healing is a miracle

Ninja Tune / Rough Trade
VÖ: 10.07.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
5/10

Kathedrale der Körper

Was heißt "Alles Gute zum Geburtstag" eigentlich auf Isländisch? Sigur-Rós-Kopf Jónsi könnte es zu Julianna Barwick gesagt haben, als er und Partner Alex Somers der amerikanischen Freundin ihr Geburtstagsgeschenk überreichten: ein paar nigelnagelneue Studiolautsprecher. Barwick, die bisher ausschließlich über Kopfhörer aufnahm, erfuhr durch die Boxen eine kleine Offenbarung, indem sie ihre Musik körperlich intensiver als sonst spüren konnte. Vielleicht entstand so die Idee hinter ihrem vierten Album "Healing is a miracle", das die wundersame Heilkraft des menschlichen Organismus zum Leitmotiv wählt. Ein passenderes Konzept hätte sich die Ambient-Zauberin gar nicht ausdenken können. Seit ihrem 2011er-Debüt "The magic place" destilliert sie akustisches Seelenbalsam aus dem körperlichsten aller Instrumente. Sie loopt ihre Stimme und verknüpft sie mit elektronischen wie klassischen Akzenten zu Essenzen purer Schönheit – mal mit der majestätischen, fast schon post-rockigen Eleganz ihres Meisterwerks "Nepenthe", mal intimer wie auf "Will". Dass man von diesen Therapiestunden des Wohlklangs zumeist kaum ein Wort versteht, spielt keine Rolle, da sie ihre reinigende Wirkung auf einer tieferen Ebene als der Sprache entfalten.

So formt der grandiose Opener "Inspirit" sich überlappende Stimmen zu einem Chor des Indefiniten, der wie ein sanftes Meer auf- und abwogt. Wenn ein mächtiger Synth-Bass das Wasser erschüttert, wird der physische Effekt der neuen Studiotechnik auch auf Rezeptionsseite erlebbar. Das mysteriöse "Wishing well" und "Safe" stellen weitere Wunderwerke minimalistischer Gesangsmagie dar – vor allem letzteres begeistert, indem es sich graduell zu einer dringlichen Klimax auftürmt, die in einer Synthie-Fläche wieder zur Ruhe kommt. "Himmlisch" oder "ätherisch" tauchen als Begriffe oft bei der Beschreibung von Barwicks Musik auf, verfehlen allerdings ein wenig den Kern. "Healing is a miracle" driftet nie in außerweltliche Sphären davon, sucht im Gegenteil stets den direkten Weg zum Körper. Die Kompositionen schweben nicht auf der Stelle, sondern haben eine klare Richtung, in der sie sich gemächlich, aber bestimmt vorwärtsbewegen. Einzig der Titeltrack richtet sich etwas statischer auf seinem Streicher-Bett ein, was aber zu seiner besonders sedativen Qualität passt. Dass Barwicks musikalische Anfänge im Kirchenchor liegen, ist nicht nur ihrer Stimmen-Obsession, sondern auch den sakral-feierlichen Fassaden ihrer Klanggebäude anzuhören.

Wie schon auf den Vorgängern schafft es Barwick, ihre etablierte Formel um ein paar subtile Facetten zu erweitern. Vielleicht des Umzugs nach Los Angeles geschuldet, ist ihre Musik von einer neuen Offenheit und Kollaborations-Bereitschaft gezeichnet. Neu-Nachbarin Mary Lattimore verziert die gedämpften Piano-Loops von "Oh, memory" mit ihrer Harfe, der Closer "Nod" holt den HipHop-Produzenten Nosaj Thing ins Boot, der unter anderem mit Kendrick Lamar zusammenarbeitete – seine Beats und Synths verleihen dem Song eine gleichermaßen abgründige wie muskulöse Note. Der Einsatz von Percussion ist auf einem Julianna-Barwick-Album immer ein Ereignis, woran auch das Jónsi-Feature "In light" nichts ändert: Der Herzschlag wird zum euphorischen Festzug, während sich diese zwei so wunderschönen Stimmen um die verkappte Pop-Struktur winden. Es ist schlicht meisterhaft.

Auf hohem Niveau muss sich "Healing is a miracle" allerdings den Vorwurf gefallen lassen, mit einer guten halben Stunde Spielzeit etwas zu flüchtig daherzukommen und nicht jede seiner Ideen auszuarbeiten. "Flowers" setzt einen interessanten Konterpunkt zur sonstigen Wellness: Aufgeregtes Atmen, Sirenengesänge und aggressive Störgeräusche erzeugen ein Gefühl des Unbehagens, das nach zweieinhalb Minuten allzu jäh unterbrochen wird. Doch insgesamt ist Barwick wieder ein faszinierendes Gewebe von Harmonien gelungen, das sich mit den üblichen Architekturtänzen kaum wirklich erfassen lässt. Oder, um es mit ein paar der wenigen vernehmbaren Worte der Platte zu pointieren: "Open your heart / It's in your head."

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Inspirit
  • In light (feat. Jónsi)
  • Safe

Tracklist

  1. Inspirit
  2. Oh, memory (feat. Mary Lattimore)
  3. Healing is a miracle
  4. In light (feat. Jónsi)
  5. Safe
  6. Flowers
  7. Wishing well
  8. Nod (feat. Nosaj Thing)
Gesamtspielzeit: 33:34 min

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Randwer

2021-01-06 19:52:50

Album des Jahres bei A Closer Listen
https://acloserlisten.com/2020/12/18/acl-2020-the-top-20-albums-of-the-year/

Armin

2020-07-17 22:10:16- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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