Bob Dylan - Rough and rowdy ways
SonyVÖ: 19.06.2020
Unsterblich
Kommen ein Arzt, ein Pilot, ein Scheich und ein Sänger in eine Bar. Sie tauschen sich aus. Über Kunst und Geld und Frauen. Sie lachen gemeinsam über die Leute, die ihnen ihre Lügen glaubten und immer noch glauben. Sie heißen Gert Postel, Frank Abagnale, Anthony Gignac und Robert Zimmermann. Hochstapler unter sich. Zimmermann ist vielleicht der größte unter ihnen. Als Einziger hat er es geschafft, dass sein selbst gewählter Name heute offiziell im Ausweis steht. Über eine Zeitspanne von mittlerweile fast sechs Jahrzehnten musiziert er als Bob Dylan. Unbehelligt möchte man sagen. Außer von der Erwartungshaltung seiner Jünger. Entsprechend groß war die Aufregung, als sich im Frühjahr 2020 die Veröffentlichung seines neues Werks abzeichnete. Nun erscheint "Rough and rowdy ways", sein 39. Studioalbum.
Wer ist dieser Bob Dylan wirklich? Diese Frage ist so alt wie langweilig. Die bessere Frage lautet: Wer kann er noch alles sein? "I'm just like Anne Frank, like Indiana Jones / And them British bad boys, The Rolling Stones", singt der Barde im frühlingshaft daherklimpernden Opener "I contain multitudes". Alles natürlich richtig, alles freilich völlig an den Haaren herbeigezogen und damit an dieser Stelle definitiv schon spannender als seine vergangenen drei Platten. Da wollte Dylan bloß noch Sinatra sein. Das ist zu wenig, klar. Jetzt verkauft er endlich wieder aus dem eigenen Sortiment. Na ja, er hat sich freilich reichlich anderswo bedient, wie das bei Hochstaplern eben so ist. Er hat seine Beobachtungen gemacht, alles mögliche zusammengeklaubt und verbastelt, manche mögen das "dreist" nennen. Aber ist nicht jede Kunst am Ende nur ein Zitat, oder zumindest ein Widerspruch gegenüber jenem? Welche Inspiration erfolgt schon rein intrinsisch? Was Dylan auf "Rough and rowdy ways" ausdrückt, scheint jedenfalls originär zu sein, vielleicht auch weil es ganz vordergründig dem gemutmaßten Hauptthema eines 79-Jährigen gerecht wird: Dylans neuester Streich dreht sich ziemlich eindeutig um das Thema Sterblichkeit.
Und zwar nicht nur seine eigene, sondern die aller Menschen, das Ende der Welt sogar. Immer wieder kommt er auf die Vergänglichkeit zu sprechen, meistens unter Einbezug der ersten Person Singular: "I'm the last of the best / You can bury the rest", erklärt er etwa in ganz angenehm rumdängelnden "False prophet", einer verspäteten Replik gegenüber dem Vatikan, die zu Zeiten, als wir noch Papst waren, besser gepasst hätte. Eine letzte Beichte oder die unterschriebene Austrittserklärung? Beides. Zwar behauptet His Bobness im Interview mit der New York Times, die Lyrics enthielten keine Metaphern, dennoch ist es wohl kaum wörtlich zu nehmen, wenn er eine Flussquerung zum Liedtitel erkiest. Noch mag er zwar nicht über den Jordan gegangen sein, aber zumindest hat er einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt: "One step from the great beyond / I pray to the cross, I kiss the girls, and I cross the Rubicon", macht er im vielleicht ä bisserl zu zurückgenommenen Standardblues "Crossing the Rubicon" deutlich.
Und auch dann, wenn er der "Mother of muses" eine Ballade trällert, schaut er eher zurück als nach vorn, schließlich steht Musenmutti Mnemosyne in der griechischen Mythologie als Sinnbild für die Erinnerung. Er denkt an Krieger und ihre Kriege, an Elvis, an Martin Luther King, bis er sich schließlich endgültig verflüchtigt: "I'm travelin' light and I'm a-slow coming home." In "My own version of you" begegnet er in einem zwielichtigen Setting à la "Ballad of a thin man" der gesamten Menschheitsgeschichte mit verächtlichem Blick und erfährt gleichzeitig eine Nahtodepisode am eigenen Leib: "Is there light at the end of the tunnel, can you tell me, please?" In "Black rider" führt er unter Zuhilfenahme von spanischen Gitarren und HipHop-Vokabeln ("The size of your cock will get you nowhere") ein düsteres Zwiegespräch mit dem apokalyptischen Reiter der Johannes-Offenbarung oder schlicht mit der eigenen Vergänglichkeit. In "Key West (Philosopher pirate)" zieht er zu Orgelklängen gar ins Altersheim ein.
Das alles sollte jedoch nicht den Anschein erwecken, diese "Rough and rowdy ways" leiteten einzig ins Jenseits. Schließlich nähert sich Dylan im durchaus romantischen Walzer "I've made up my mind to give myself to you" einer alten neuen Liebe an. Das muss sich ja lohnen, dazu muss man nun mal lebendig sein und es bestenfalls noch ein Weilchen bleiben. "Murder most foul", die erste Auskopplung vom März 2020, gemütliche 17 Minuten und 15 Strophen lang und auf dem Doppelalbum allein auf Disc 2 untergebracht, spricht noch viel mehr für die Vitalität ihres Schöpfers. Ein Piano, eine Handvoll leise Streicher und ein paar Besenstriche rollen für Dylans Gedicht den Teppich aus. Thema: die Ermordung John F. Kennedys. Aber nur auf den ersten Blick. Es ist vielmehr eine Boomer-Selbstkritik, ein Abgesang auf diese Generation der verpassten Chancen und mithin ein Requiem für die USA, die nie das waren, was sie vorgaben und es heute erst recht nicht mehr sind. Es ist ein unbitteres Goodbye an einen Traum, der bereits gestorben war, bevor er sich jemals erfüllt hatte. Es ist ein Manifest der Popkultur, das zahlreiche Größen am Wegesrand erkennt, zitiert und referenziert, grüßt und verabschiedet. Es ist kein "Masters of war", kein "Times they are a-changin'", kein "Hurricane". Es ist stattdessen völlig unaufgeregt und unwütend, aber keineswegs unscharf oder gar unnütz. Altersweise, aber nicht -milde.
Dylan ist hier wieder ganz er selbst – wer auch immer das sein mag. Zudem, so scheint es, hat er endlich eins der Hustenbonbons angenommen, die ihm sicher täglich vielfach angeboten werden: Sein Gesang ist so klar wie lange nicht mehr. Das rechtfertigt denn auch den großen Spielraum, den die weitestgehend unspektakuläre musikalische Ausgestaltung – abgesehen vom flotten Mundharmonika-Blues "Goodbye Jimmy Reed" – seiner Stimme einräumt. Dylan tut auf "Rough and rowdy ways" genau das, was er soll: die einen verzücken, die anderen enttäuschen, einige anmachen, viele abtörnen, kurzum – ein umstrittenes Genie sein. So wie dieser Typ aus Bremen, der über ein Jahrzehnt als Arzt erfolgreich war, obwohl er nie Medizin studiert hatte, wie der Pilot ohne Flugschein und der Scheich mit Wurzeln in Miami. Sie sind Halunken und Vorbilder zugleich. Sie alle werden eines Tages sterben, ihre Geschichten aber werden unsterblich bleiben.
Highlights & Tracklist
Highlights
- I contain multitudes
- My own version of you
- I've made up my mind to give myself to you
- Murder most foul
Tracklist
- CD 1
- I contain multitudes
- False prophet
- My own version of you
- I've made up my mind to give myself to you
- Black rider
- Goodbye Jimmy Reed
- Mother of muses
- Crossing the Rubicon
- Key West (Philosopher pirate)
- CD 2
- Murder most foul
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kingsuede
2023-12-25 18:00:13
Re-listened
I Contain Multitudes 8,5/10
False Prophet 9/10
My Own Version of You 7/10
I've Made Up My Mind to Give Myself to You 10/10
Black Rider 7/10
Goodbye Jimmy Reed 6/10
Mother of Muses 8/10
Crossing the Rubicon 7/10
Key West (Philosopher Pirate) 9/10
Murder Most Foul 10/10
Mic
2021-01-04 00:00:49
Ja aber Coronamäßig gibt es ja soviele Meinungen. Das ich wünschte, dass alle bald Immun sind, ist doch klar. Die Verteilung habe ich vielleicht hart formuliert. Aber an dem Kern halte ich fest. Neue Single von Clap your hands say yes ist soooo grandios.
Peacetrail
2021-01-03 08:04:28
„Die Sinatra Sache fand ich echt öde.“
+1
„Aber nur hier Peacetrail:-)“
Musikalisch habe ich mit Dir öfter Schnittmengen. Nur coronamässig kommen wir halt nicht so klar.
Mic
2021-01-03 00:39:59
Die Sinatra Sache fand ich echt öde.
The MACHINA of God
2021-01-03 00:36:53
@Mister X:
Wobei die Sinatra-Sache abgeschlossen ist. Wüsste nicht, was jetzt da noch groß kommen sollte.
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