Jehnny Beth - To love is to live

Caroline / Universal
VÖ: 12.06.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Freiheit statt Frust

Es muss irgendwann im Jahr 2013 gewesen sein, kurz nach der Veröffentlichung von Savages' bis heute grandiosem Debütalbum "Silence yourself". Die Band trat im Frankfurter Indie-Club "Zoom" auf und mir machten Rückenbeschwerden so großen Kummer, dass ich das Konzert verpasste. Gibt es etwas, das noch weniger Rock'n'Roll ist als ein Hexenschuss? Wenige Monate später kam das Quartett wieder, diesmal war ich dabei. Und von der ersten Sekunde gefangen von Jehnny Beths Bühnenpräsenz: Hautenge schwarze Lederhosen, ein weißes T-Shirt, die Haare mit so viel Gel am Kopf angelegt, dass es wie pures, schwarzes Öl aussah. Dazu diese dunkel geschminkten Augen. Ein androgynes Wesen, fast wie von einem anderen Stern. Als sie zu "Shut up" den ersten Schrei ins Mikrofon losließ, war ich so Feuer und Flamme, dass ich kurz überlegte, Jehnnys Schreibweise auch bei mir zu übernehmen. Sah dann aber eben leider doch kacke aus. Jehnny Depner? Lieber nicht.

Meine Leidenschaft für die britische Band mit ihrer französischen Femme fatale an der Front, die bürgerlich eigentlich Camille Berthomier heißt, riss auch bei Erscheinen des Zweitlings "Adore life" 2016 nicht ab. Als schließlich Jehnny Beths Soloalbum "To love is to live" angekündigt wurde – und kurz darauf aufgrund der Coronavirus-Pandemie nach hinten verschoben –, war die Freude groß. Nach dem ersten Hördurchgang war jedoch schnell klar, dass der Alleingang mit dem messerscharfen Post-Punk der Hauptband nicht viel gemeinsam hat. Eines zumindest setzt sich auch hier weiter fort: Jehnny Beth wurde bisher mit jedem Album etwas offener. Mit "To love is to live" ist das nicht anders, und war ihre nichtbinäre Geschlechteridentität bisher fast wie eine Art Spiel, ist es nun endgültig zum Hauptinstrument geworden. Liebe, Sex, Lust, Leidenschaft, aber auch die damit verbundenen Ängste, Zweifel und Sorgen – die 35-Jährige lässt auf ihrem Album tief blicken, den Hörer aber nicht ohne eigenen Aufwand einfach durch die Tür spazieren.

An wirklichen Vorbildern habe es ihr in der französischen Provinz gefehlt, an anderen bisexuellen Figuren, die ihr den eigenen Weg etwas verständlicher machten. "To love is to live" ist selbst keine Anleitung zum Glücklichsein, aber zumindest die Erzählung von einer, die Freiheit in ihrem Leben nicht nur gesucht, sondern mit Leib und Seele darum gekämpft hat. Dementsprechend tief geht so manche Wunde, die sich Jehnny Beth hier auf offener Bühne leckt und die sie wie eine Trophäe hochhält. Eine Botschaft an den Feind: "I never meant to trouble you / And I'm young and I'm innocent / And I'm burning inside", ruft der Opener "I am" voller Dramatik und Hingabe aus, ehe das polternde "Innocence" nicht nur das Kommando übernimmt, sondern mit voller Absicht für ordentlich Klaustrophobie auf der viel zu vollen Tanzfläche sorgt. Schlangenähnlich windet Jehnny Beth sich hier dann stellenweise auch noch, verteilt Zuckerbrot nach schmerzenden Peitschenhieben, nur um jedes Pflaster ohne vorherige Ankündigung so langsam wie möglich wieder abzureißen.

"To love is to live" ist so intensiv wie überraschend für alle, die auf ein Savages-Album ohne den Rest von Savages eingestellt waren. "We will sin together" mit seinem Dark-Pop-Charakter tritt diese Erwartungshaltung mit in hohen Pumps herumstolzierenden Füßen, "The rooms" zieht sich für ein Kammerspiel der gruseligen Art in die heimischen Gemächer zurück, und das Interlude "A place above" macht gar gänzlich Platz für den Schauspieler Cillian Murphy, dessen tiefe Stimme eine kleine Geschichte erzählen darf. Für dessen Serie "Peaky blinders" nahm Jehnny Beth den hier ebenfalls vertretenen Song "I'm the man" auf, mit dem die Gute zeigt, dass manchmal eben auch Frauen den mit Abstand Größten haben können. Wer derart breitbeinig und laut und stürmisch und ungezwungen aufstampfen kann, darf auch mal aufs Männerklo gehen. Natürlich nur zum Händewaschen.

So manches Mal wirkt das Album fast schon unhörbar. Das von Idles-Frontmann Joe Talbot unterstützte "How could you" mit viel Strom und dröhnenden Störgeräuschen etwa will offenbar gar nicht wirklich gefallen, tut es am Ende aber irgendwie trotzdem. Derweil kann sich "Flower" mittendrin kaum entscheiden, ob es nun eine gefällige, wenngleich ziemlich wirre Popnummer sein möchte oder doch eher das große Kunstprojekt. Warum also nicht einfach beides? Ganz sanft und ungewohnt verletzlich zeigt sich die Piano-Ballade "French countryside" auf der Zielgeraden, in der die Sängerin sogar noch blanker zieht als auf dem Album-Artwork. So nackt und frei lässt es sich im finalen Kracher "Human" dann auch noch viel besser ausrasten und am Ende episch, großgestig, aussagekräftig völlig erschöpft auf der Bühne zusammenklappen. Doch eines sollte klar sein: Jehnny Beth ruht sich nur aus – und wird immer einmal mehr aufstehen, als sie umfällt.

(Jennifer Depner)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • I am
  • French countryside
  • Human

Tracklist

  1. I am
  2. Innocence
  3. Flower
  4. We will sin together
  5. A place above (feat. Cillian Murphy)
  6. I'm the man
  7. The rooms
  8. Heroine
  9. How could you (feat. Joe Talbot)
  10. French countryside
  11. Human
Gesamtspielzeit: 38:44 min

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MickHead

2024-11-01 22:44:00

Neuer Song "Fall In Light' mit Tunisian/American artist EMEL

https://youtu.be/qwMfz10WEyw?si=dF9_qm0DEN9dXRkR

fuzzmyass

2020-06-22 03:28:33

Hmmm, nach einem Durchlauf bin ich noch etwas enttäuscht... hoffentlich wächst das Album noch, ich hatte mich sehr darüber gefreut... irgendwie wirkt das noch recht flach und gezwungen verkünstelt und dadurch recht unfokussiert... viel zu viel gewollt (Artwork, Lyrics, Begleitbüchlein mit Interviews/Mails und Artwork-Konzept, mehrere Kollaborateure - Talbot, Flood, Atticus Ross) und das wesentliche etwas aus dem Blick verloren - Musik, Instrumentierung, Tiefe, Atmosphäre, Unmittelbarkeit...

Hoffentlich kommt das noch alles mit den weiteren Hördurchgängen...

Klaus

2020-06-21 23:33:08

Erster Durchlauf gerade.

Ziemlich interessant. Wohl eines der besseren Alben dieses Jahr.

" Offiziell pausieren sie seit 2016. "

2017 habe ich sie noch Live gesehen beim NOS Alive (?)

slowmo

2020-06-09 09:27:44

Die ersten Auskopplungen auf Spotify ergreifen mich irgendwie bisher nicht so richtig wie erhofft. Woran es liegt kann ich schwer sagen. Dieses Zusammenspiel ist nicht so meines. Hätte mir vllt. mehr düsteren Ambientsound erhofft, wie ihn Atticus Ross zuletzt für einige Soundtracks komponiert hat.

Armin

2020-06-03 19:36:52- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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