Lady Gaga - Chromatica

Interscope / Universal
VÖ: 29.05.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Schön blöd

Wer wissen will, worauf es bei "Chromatica" ankommt, muss hören, was sich gerade nicht auf dem Album befindet. Auf der Deluxe Edition der sechsten Lady-Gaga-Platte wartet nach den regulären Songs das entspannt schlendernde "Love me right" sowie eine Piano-Version von "1000 doves". Man kann sich bildlich vorstellen, wie Gaga diese Stücke mit einem saloppen "Zu lahm!" von der Tracklist gestrichen hat. Noch nie war eines ihrer Werke so fokussiert – und erneut nimmt das Narrativ drumherum seltsame Auswüchse an. Genauso wenig wie "Joanne" eine Rückkehr zu ihren Wurzeln oder ein Country-Album war – ihr Ursprung lag schon immer in der Showmanege des Pop, im Artifiziellen –, ist "Chromatica" eine Wiederholung der frühen Tage, wie es bereits von den Dächern schallte. "The fame" hatte die Killersingles, "The fame monster" mag ihr bestes Werk bleiben, "Born this way" ein eindrucksvoller, wenn auch überlanger Zeitgeist-Stempel. Alle wollten jedoch ein Vielfaches für Jedermann sein. "Chromatica" ist hingegen ein Album im echten Sinne, ein unfassbar geschlossenes Werk und bombenfest im Sattel.

Keine Ballade, nicht eine einzige, findet sich hier. Lediglich drei kurze klassisches Interludes fallen aus dem Rahmen – und selbst unter diesen hat "Chromatica II" bereits Internet-Fame erlangt, weil es eine famos elegante Transition in das folgende "911" einleitet. Ansonsten dominiert goldenes Four-to-the-Floor-Handwerk, ökonomisch und verteufelt effizient. Gerade einmal 43 Minuten brauchen die 16 Tracks zum Durchlauf, kein unnötiges Gramm Fett trägt das Album mit sich. "Chromatica" tut gar nicht so, als würde es etwas anderes wollen als den ultimative Dancefloor-Eskapismus zu vertonen. Es gibt ein umrandendes Konzept über einen fernen Planeten, aber das interessiert ohnehin keine Sau. Sich einem Album, das mit "My name isn't Alice / But I keep looking for Wonderland" anfängt, mit "Gossip, babble on / Battle for your life, Babylon" aufhört und dazwischen auch nicht intelligenter wird, anhand analytischer Ansätze zu nähern, ist der falsche Weg.

Stattdessen gibt "Stupid love" nicht nur musikalisch das Marschmotto vor, sondern beschreibt auch in etwa das, was man für "Chromatica" empfinden kann. Es ist von vorne bis hinten ein wahnsinniger Spaß, ohne dass man sich über doppelte Böden Gedanken machen müsste. Selbst wenn in "911" die zwischenzeitliche Tablettensucht oder in "Free woman" sexuelle Übergriffigkeit eines Musikproduzenten thematisiert werden. Das Trauma wird rausgeschwitzt: Dafür sorgen die exzellente Produktion, viel besser und griffiger als auf den Vorgängern, und das anhaltende Tempo. Die Tracks werden mit Sicherheit in vielen Clubs, ob nun gay oder nicht gay, ihre durchschlagende Wirkung entfalten, anstatt eines klassischen Refrains tauchen die Songs oft in eine spärlich betextete, aber umso tanzbare Sektion ab.

Hinzu kommen viele Querverweise, die man als geklaut sehen kann oder eben als kleiner Wink. Schon "Stupid love" recycelt den Stotter-Synth von "Born this way" mit erheblichem Erfolg. "Sour candy", eigentlich mindestens ein halber Blackpink-Song, bedient sich bei "What they say" von Maya Jane Cole – zuletzt gehört bei Nicki Minajs "Truffle butter" und Katy Perrys "Swish swish". Die hintereinander geschalteten "911" und "Plastic doll" erinneren an Robyns Robopop-Eskapaden von "Body talk", letztgenannter Track wurmt irgendwie auch noch Anleihen von Daft Punks "Technologic" hinein. Das alles ist aber der Leitlinie von "Chromatica" untergeordnet und die lautet, Hymnen zu schaffen bis zum Abwinken. Die beste davon ist "Enigma", die allein durch Willenskraft Wolken aufreißen lässt, wenn Gaga "We could be lovers" euphorisch entgegenschreit und – nicht zum letzten Mal – der Saxofon-Joker gezogen wird.

Das folgende "Replay" funktioniert als schwitziger Discotune kaum weniger erfolgreich, mit Ariana Grande integriert Gaga zudem auf dem tanzwütigen "Rain on me" einen anderen Megastar perfekt ins eigene Boot. Das alles toppt jedoch nicht die WTF-Spektakularität von "Sine from above" (!), das nicht nur Elton John (!!) in einen astrein ravenden Gaga-Track integriert, sondern die letzte halbe Minuten mal eben in seinen eigenen Drum'n'Bass-Remix (!!!) hineinstolpert. Doch es funktioniert. Wer Angst hatte, dass Lady Gaga nach dem Erfolg des durchaus meisterhaften "Shallow" aus "A star is born" ihre campy Attitüde abgelegt hätte, darf sich mit "Chromatica" die letzten zweifelnden Hirnzellen auf überwältigende Weise auspusten lassen. "This is my dancefloor that I fought for", skandiert sie. Den hat sie sich verdient.

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Stupid love
  • 911
  • Enigma
  • Replay

Tracklist

  1. Chromatica I
  2. Alice
  3. Stupid love
  4. Rain on me (feat. Ariana Grande)
  5. Free woman
  6. Fun tonight
  7. Chromatica II
  8. 911
  9. Plastic doll
  10. Sour candy (feat. Blackpink)
  11. Enigma
  12. Replay
  13. Chromatica III
  14. Sine from above (feat. Elton John)
  15. 1000 doves
  16. Babylon
Gesamtspielzeit: 43:08 min

Im Forum kommentieren

Felix H

2020-11-01 19:05:15- Newsbeitrag

Absolut großartiges Video, finde ich.

Grizzly Adams

2020-06-04 08:39:39

Ninja, Lady Gaga macht also eine Disco-Pladdre, ein Club-Album. Diesmal sogar ohne Ausreißer in andere Genres.
Nur: Wann werden diese schwitzigen Pumakäfige je wieder öffnen? Und ob es in diesem Sommer überhaupt wieder private oder öffentliche (legale) Partys geben wird? Man weiß es nicht... Für den privaten Hörgebrauch ist es mir zu plakativ und aufdringlich.
Im nächsten Jahr wird es dann andere Alben geben, die den Anspruch auf Dauerrotation auf dem Dancefloor erheben. Darum schätze ich, dass das Timing für die VÖ eines solchen Albums einfach nicht passt.

Schwarznick

2020-06-03 20:09:33

keine schleischwerbung bittö

Felix H

2020-06-03 19:54:21

Dann geh doch zu Netto.

Xavier

2020-06-03 19:48:46

Lächerlich. Jede Platte wird in der Presse maßlos gelobt. Ich glaube den Leuten kein Wort mehr.

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