Sleaford Mods - All that glue

Rough Trade / Beggars / Indigo
VÖ: 15.05.2020
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Urinal und Wirklichkeit

Dass Sleaford Mods nicht zum Schwadronieren neigen, sollte sich mittlerweile rumgesprochen haben. Dafür haben sie zu viel zu sagen. Wenn Produzent Andrew Fearn bei Live-Konzerten per Klick auf seinem Laptop den Track startet und anschließend wippend seinen Plastikbecher leert, dann möchte er gar nicht mehr den Anschein erwecken, dass es auf der Bühne um etwas anderes gehen soll als die Poesie seines "mates" (hier: Kollege und Genosse gleichermaßen). Über Minimal-Beats und punkige Basslinien spuckt Jason Williamson dann in tiefem Dialekt seine Tiraden ins Mikro, bis sich ein solcher Sprühregen entwickelt, dass man sich direkt in die postindustrielle Tristesse der East Midlands versetzt glaubt. Den Ort des Geschehens vieler seiner Texte also, die zwischen bitterem Sozialkommentar, cleverem Wortwitz und jeder Menge Flüchen und Obszönitäten eine Collage der desillusionierten, aber noch nicht vollends kampfesmüden Arbeiterklasse erzeugen.

Dass "All that glue" mit 22 Songs und über 70 Minuten Spielzeit rund doppelt so lang ausfällt wie ein gewöhnliches Album des Duos, erklärt sich schnell: Es handelt sich um eine Retrospektive der letzten sieben Jahre, ein Potpourri aus Albumtracks, Singles, Live-Lieblingen und Raritäten. Andere Bands nennen so etwas Best Of, Sleaford Mods hingegen packen ein verdrecktes Pissoir aufs Cover. Zwischen Klassikern wie "Fizzy", dessen Schimpforgie gegen den Chef stets zu explodieren droht wie ein zu lange geschütteltes Dosenbier, "Tied up in Nottz" mit seinem Fäkalhumor, der nicht albern pubertär daherkommt, sondern als Indiz sozialer Verwahrlosung, oder "Tweet tweet tweet" streut sich bisher Unveröffentlichtes oder Seltenes. "Jobseeker", das die Band live seit 2007 begleitet, erschien zuletzt auf einer mittlerweile längst vergriffenen 7-Inch und ist nun zum Glück endlich wieder als Studioversion erhältlich. Eine heitere kleine Bassmelodie begleitet Williamsons Erzähler dabei, wie er zwischen zerstörerischer Wut und Demütigung auf dem Weg zum Arbeitsamt um den letzten Funken Selbstachtung ringt - das ist aufwühlend, berührend, auf kathartische Weise tanzbar und zeigt die Band in all ihren Stärken.

In der wilden Social-Media-Kritik "Blog maggots" scheitert vor lauter Wut ob der selbsteingerichteten Belanglosigkeit sogar Williamsons Artikulation, ins Mikro äffend wiederholt er refrainartig das Unbehagen in der Kultur: "All this death, all this fucking death". Das verhältnismäßig gitarrenlastige "Routine Dean" oder der dubbig-schunkelnde Remix des 2015er-Hits "No one's bothered" erweitern Sleaford Mods' Ausdruckspalette, deren Entwicklung "All that glue" grob chronologisch nachzeichnet. Dabei fällt auf, dass der rohe Lo-Fi-Charme der älteren Singles auf den jüngeren Aufnahmen einer etwas glatteren Produktion weicht, auch Williamsons Texte wirken ein wenig aufgeräumter als die flackernden Schlaglichter und Montagen früherer Tage. Daraus erwachsen aber immer noch einprägsame Momente wie im beinahe zärtlichen "When you come up to me", hier als Closer platziert, in dem sich Williamson zu ambivalent pluckernden Beats ungewohnt scheu zwischenmenschlichem Scheitern annähert.

Letztlich erfüllt "All that glue" seinen Zweck voll und ganz, indem die Compilation einerseits den wahrscheinlich bestmöglichen Ausgangspunkt darstellt, das bisherige Material des Duos zu erkunden und andererseits lange vermissten Outtakes einen Raum gibt - ganz ähnlich, wie es die Texte der Band seit jeher für marginalisierte Stimmen leisten: "Music for the masses / I'm out-classed here mate." Voller Anspielungen und Witz lotet Williamson im 2013-er "McFlurry" die Kodependenz von Kommerz und Prekariat aus, garniert das Ganze mit einem Seitenhieb auf den schmierigen damaligen Londoner Bügermeister Boris Johnson, um schließlich in eine Fundamentalkritik an der Musikindustrie zu kippen. "I got a Brit Award", lügt er am Ende sarkastisch. Sieben Jahre später ist der Brexit-Opportunist Johnson Premierminister, der Hoffnungsträger Corbyn gescheitert und McFlurry steht nach wie vor auf dem Menü. Doch Sleaford Mods' kompromisslose Vision zeitigt ihren Einfluss bis zur Kunsthochschule, und der melodiöse Sprechgesang jüngerer Bands wie Fontaines D.C oder Idles verweist auf Williamsons unverkennbare Diktion. Ist das ein Hoffnungsschimmer? Gebt ihnen jedenfalls endlich diesen Brit Award, damit sie ihn im nächsten Pub gegen die verdammte Wand schleudern können.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • McFlurry
  • Jobseeker
  • Tied up in Nottz
  • Tweet tweet tweet
  • B.H.S.
  • When you come up to me

Tracklist

  • CD 1
    1. McFlurry
    2. Snake it
    3. Fizzy
    4. Rich list
    5. Jobseeker
    6. Jolly fucker
    7. Routine Dean
    8. Tied up in Nottz
    9. Big dream
    10. Blog maggot
    11. Tweet tweet tweet
  • CD 2
    1. Tarantula deadly cargo
    2. Fat tax
    3. Slow one's bothered
    4. Revenue
    5. Rochester
    6. TCR
    7. Reef of grief
    8. B.H.S.
    9. Second
    10. OBCT
    11. When you come up to me
Gesamtspielzeit: 71:59 min

Im Forum kommentieren

myx

2020-05-16 10:49:08

Wirklich schöne Doppel-LP, mit nochmals richtigem Höhepunkt zum Schluss hin ("BHS", "Second", "OBCT" und das ungewohnt klingende "When You Come Up To Me"). Gut auch, dass die Texte mit dabei sind.

Mein liebster Song der Mods ist immer noch "I Can Tell" von 2016 (leider nicht mit drauf). War meine erste Begegnung damals und bin immer noch sehr begeistert von dem Song, wohl jetzt schon um die 50-mal oder so gehört. :D

Rezi zu "All That Glue" gefällt auch!

cargo

2020-05-15 13:50:52

Sehr schade, dass "Jobseeker" im Gegensatz zu einigen anderen Songs nicht remastered wurde.

myx

2020-05-07 09:19:44

Da freu ich mich drauf!

Rote Arme Fraktion

2020-05-07 06:09:32

Hab sie zwischendurch etwas aus den Augen verloren, aber hier wird wieder intensiv reingehört.

Armin

2020-05-06 21:11:49- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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