Hazel English - Wake up!

Polyvinyl / Marathon / Rough Trade
VÖ: 24.04.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Fremde Erinnerungen

Der französische Theoretiker Guy Debord erarbeitete in seinem Hauptwerk "Die Gesellschaft des Spektakels", wie die Reizüberflutung der Massenmedien eine Entindividualisierung des Menschen fördert. Hazel English las dieses Buch und es kam ihr einer Epiphanie gleich. Schon immer empfand sie ihr Leben als eine Aneinanderreihung immer wiederkehrenden Stumpfsinns, in dem sie sich selbst vergaß. Deshalb heißt ihr Debütalbum "Wake up!", weil es die Passivität in eine Präsenz umwandeln will. Faszinierend ist die Diskrepanz zwischen diesem Motto des Ausbruchs und der tatsächlichen musikalischen Umsetzung. Wie auf der vorangegangen Doppel-EP "Just give in / Never going home" löst sich die Australierin selbst in einem kulturellen Phänomen auf, nämlich in der vernebelten Pop-Musik der Sechziger. Ihr nostalgischer Indie- und Dreampop weist – so ehrlich muss man sein – zu wenige eigene Konturen auf, um sich stilistisch von vergleichbaren Acts abzuheben. Das ist aber nicht schlimm. Zum einen, weil das Album eine großartige Melodie nach der anderen aus dem Neonkleid schüttelt und mit dieser konstanten Qualität durchaus aus der Menge herausragt. Zum anderen, weil uns English vielleicht auch etwas anderes mitteilen möchte.

Schon der Opener "Born like" gerät zum Programmstück. Ein verheißungsvolles Intro samt Glockenspiel leitet in einen Bass-Groove, der wiederum dem offenen Refrain den Weg bereitet. Orgeln und Shoegaze hauchende Gitarren hüllen das zentrale Statement des Songs in einen Sepia-Schleier: "You're born like any other." English erwacht aus ihrer Lethargie der Massen, nur um festzustellen, dass sie doch wie alle anderen ist. Einer selbstbewussten Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen und Lebensumständen widerspricht das freilich nicht. Womöglich will "Wake up!" auch das Scheitern an einer absoluten Individualität dokumentieren, weil wir letztendlich alle mit den gleichen menschlichen Problemen zu kämpfen haben. Vielleicht sind diese ganzen Meta-Deutungen aber ohnehin müßig und die 29-Jährige versucht nicht mehr, als uns zum Tanzen zu bringen. Vor allem "Shaking", ein unverschämter Uptempo-Hit mit dezentem Post-Punk-Vibe, bricht die Trägheit in einem ganz körperlichen Sinne auf. Der kaum weniger mitreißende Titeltrack spielt sein sonnenbebrilltes Solo gleich aus dem offenen Cabrio heraus und nimmt alle mit, die sich nach den alten Best Coast sehnen.

"Off my mind" findet deutliche Worte für das vermeintliche Kernthema der Platte: "Drifting out of consciousness / Gotta find a way out of this mess / I don't wanna let my life just pass me by." Was der Song mit seinen kernigen Drums und den Sixties-Girlgroup-Harmonien jedoch stärker vermittelt, ist Englishs Talent als Präparatorin einer Popkultur-Epoche. Sie schafft es, eine Zeit greifbar zu machen, die weder sie noch der Großteil ihrer Hörerschaft selbst miterlebt haben. "Five and dime" schmiert Kaugummi auf seine Saiten und könnte ebenfalls aus einer 50 Jahre alten Jukebox stammen. Einen substanzlosen Retro-Fetisch verhindert die Hutträgerin, indem sie nie den persönlichen Bezug verliert. Das zarte, kaleidoskopisch glitzernde "Combat" kann seinen Schmerz um eine kollabierende Beziehung nicht verbergen, "Like a drug" wogt um dieselbe Geschichte bis zu einem kathartischen Finale. Wenn English im Closer schließlich "We can work it out" singt, lässt sich das als versöhnlicher Handschlag mit dem Partner, als letzter Kittungsversuch deuten – oder sie liefert einen allgemein auslegbaren, hoffnungsvollen Abschluss für alle, die einen solchen brauchen. Wenn man die Auflösung des Individuums zur Öffnung für Empathie umkehrt, erscheint sie gleich weniger schlimm.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Shaking
  • Wake up!
  • Combat

Tracklist

  1. Born like
  2. Shaking
  3. Wake up!
  4. Off my mind
  5. Combat
  6. Five and dime
  7. Like a drug
  8. Waiting
  9. Milk and honey
  10. Work it out
Gesamtspielzeit: 36:35 min

Im Forum kommentieren

myx

2020-05-08 12:58:41

So oder so: eine ganz zauberhafte Stimme.

So ist es, mich hat ihr Gesang auch gehörig verzaubert. An Lana del Rey musste ich übrigens auch denken. ;-) Opener und Closer sind wohl meine Lieblingssongs auf dem Album.

Dann werde ich doch mal in die EP reinhören und mir das "PDA"-Cover zu Gemüte führen. Danke für die Info!

qwertz

2020-05-08 12:23:11

Nachvollziehbare Weiterentwicklung; der 60s-Einschlag lässt sie ein bisschen wie Lana del Rey in flott wirken. Die Doppel-EP fand ich jedoch deutlich stärker, da mir da dreampoppigere Einschlag mehr zusagt. So oder so: eine ganz zauberhafte Stimme. Sie hat - so als Info für alle Neueinsteiger - übrigens auch eine Coverversion des Interpol-Songs "PDA" gemacht, der ihr ausgezeichnet steht.

myx

2020-05-06 21:46:37

Habe gerade heute Mittag, ziemlich begeistert, in das Album reingehört. Schön, es jetzt hier mit positiver Besprechung anzutreffen. Werde ich mir gerne komplett anhören.

Armin

2020-05-06 21:09:32- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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