
Hazel English - Wake up!
Polyvinyl / Marathon / Rough TradeVÖ: 24.04.2020
Fremde Erinnerungen
Der französische Theoretiker Guy Debord erarbeitete in seinem Hauptwerk "Die Gesellschaft des Spektakels", wie die Reizüberflutung der Massenmedien eine Entindividualisierung des Menschen fördert. Hazel English las dieses Buch und es kam ihr einer Epiphanie gleich. Schon immer empfand sie ihr Leben als eine Aneinanderreihung immer wiederkehrenden Stumpfsinns, in dem sie sich selbst vergaß. Deshalb heißt ihr Debütalbum "Wake up!", weil es die Passivität in eine Präsenz umwandeln will. Faszinierend ist die Diskrepanz zwischen diesem Motto des Ausbruchs und der tatsächlichen musikalischen Umsetzung. Wie auf der vorangegangen Doppel-EP "Just give in / Never going home" löst sich die Australierin selbst in einem kulturellen Phänomen auf, nämlich in der vernebelten Pop-Musik der Sechziger. Ihr nostalgischer Indie- und Dreampop weist – so ehrlich muss man sein – zu wenige eigene Konturen auf, um sich stilistisch von vergleichbaren Acts abzuheben. Das ist aber nicht schlimm. Zum einen, weil das Album eine großartige Melodie nach der anderen aus dem Neonkleid schüttelt und mit dieser konstanten Qualität durchaus aus der Menge herausragt. Zum anderen, weil uns English vielleicht auch etwas anderes mitteilen möchte.
Schon der Opener "Born like" gerät zum Programmstück. Ein verheißungsvolles Intro samt Glockenspiel leitet in einen Bass-Groove, der wiederum dem offenen Refrain den Weg bereitet. Orgeln und Shoegaze hauchende Gitarren hüllen das zentrale Statement des Songs in einen Sepia-Schleier: "You're born like any other." English erwacht aus ihrer Lethargie der Massen, nur um festzustellen, dass sie doch wie alle anderen ist. Einer selbstbewussten Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen und Lebensumständen widerspricht das freilich nicht. Womöglich will "Wake up!" auch das Scheitern an einer absoluten Individualität dokumentieren, weil wir letztendlich alle mit den gleichen menschlichen Problemen zu kämpfen haben. Vielleicht sind diese ganzen Meta-Deutungen aber ohnehin müßig und die 29-Jährige versucht nicht mehr, als uns zum Tanzen zu bringen. Vor allem "Shaking", ein unverschämter Uptempo-Hit mit dezentem Post-Punk-Vibe, bricht die Trägheit in einem ganz körperlichen Sinne auf. Der kaum weniger mitreißende Titeltrack spielt sein sonnenbebrilltes Solo gleich aus dem offenen Cabrio heraus und nimmt alle mit, die sich nach den alten Best Coast sehnen.
"Off my mind" findet deutliche Worte für das vermeintliche Kernthema der Platte: "Drifting out of consciousness / Gotta find a way out of this mess / I don't wanna let my life just pass me by." Was der Song mit seinen kernigen Drums und den Sixties-Girlgroup-Harmonien jedoch stärker vermittelt, ist Englishs Talent als Präparatorin einer Popkultur-Epoche. Sie schafft es, eine Zeit greifbar zu machen, die weder sie noch der Großteil ihrer Hörerschaft selbst miterlebt haben. "Five and dime" schmiert Kaugummi auf seine Saiten und könnte ebenfalls aus einer 50 Jahre alten Jukebox stammen. Einen substanzlosen Retro-Fetisch verhindert die Hutträgerin, indem sie nie den persönlichen Bezug verliert. Das zarte, kaleidoskopisch glitzernde "Combat" kann seinen Schmerz um eine kollabierende Beziehung nicht verbergen, "Like a drug" wogt um dieselbe Geschichte bis zu einem kathartischen Finale. Wenn English im Closer schließlich "We can work it out" singt, lässt sich das als versöhnlicher Handschlag mit dem Partner, als letzter Kittungsversuch deuten – oder sie liefert einen allgemein auslegbaren, hoffnungsvollen Abschluss für alle, die einen solchen brauchen. Wenn man die Auflösung des Individuums zur Öffnung für Empathie umkehrt, erscheint sie gleich weniger schlimm.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Shaking
- Wake up!
- Combat
Tracklist
- Born like
- Shaking
- Wake up!
- Off my mind
- Combat
- Five and dime
- Like a drug
- Waiting
- Milk and honey
- Work it out
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myx
2024-10-15 19:31:22
Tolle Atmosphäre in der Tat, man schwebt geradezu durchs Album. Schöne Musik, auch wenn's für die vordersten Jahresränge bei mir nicht reichen wird.
Vennart
2024-10-11 14:53:24
Freut mich zu hören :)
Die Jahreszeit für das Album ist für mich jetzt fast schon rum, weil das so eine perfekte Spätsommeratmosphäre besitzt aber die Musik funktioniert natürlich unabhängig von den äußeren Temparaturen!
qwertz
2024-10-11 13:55:13
Für mich definitiv auch eines meiner Jahreshighlights und deutlich besser als der Vorgänger. Einige der Songs wurden ja schon über die letzten Jahre tröpfchenweise veröffentlicht und fanden sich auch schon in meinen Endjahreslisten wieder. :)
myx
2024-10-11 12:48:10
Ah, schön, danke für den Hinweis. Werde ich mir gerne vornehmen, wenn sich dann irgendwann noch ein Zeitfenster auftut.
Vennart
2024-10-11 11:56:15
Ihr neues Album “Real Life“ ist im August 2024 erschienen und ist mein bisheriges Lieblingsalbum von ihr und auch was für wohl kuratierte Endjahreslisten :)
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