
Hans Unstern - Diven
Staatsakt / Bertus / ZebralutionVÖ: 24.04.2020
Beim Barte des Proleten
Kann auch nicht jeder: eine E-Harfe bauen. Gibt schließlich keine YouTube-Videos dazu. Hans Unstern jedenfalls hat der Sage nach sieben Jahre lang an jenem Instrument geschraubt, das er V-Harfe nennt und mit dem er nun weite Teile seines dritten Albums bestreitet. "Diven" heißt diese 45-minütige Werkschau, kommt mit überschaubaren acht Songs daher und widmet sich vordergründig queeren Themen, Identifikationsmodellen, Selbstermächtigungstheorien. Und hat dazu auch keine Angst vor Autotune.
Dass es hier einmal mehr um das "Kleine Ich-bin-Ich"-Spiel geht, machen die prägnantesten Zeilen von "Selbstauslöserin" deutlich: "Bist du da? Die Musik wäre verbraucht ohne Dich / Ein Schlupfloch in meine Selbsteinlösung / Ausgelöst durchs Du / Gedrückt / Ich schreibe mich neu ab“, singt Unstern da. Es ist eine Reflexion über das legendäre Bonmot von Max Frisch, der bekannte: "Ich wechsle meine Identitäten wie meine Klamotten." Bei Unstern zirpt dazu die neue Harfe, ein paar Schubidus geben den Takt vor, ein mächtiges Störgeräusch hievt den Song am Ende auf Einstürzende-Neubauten-Niveau. Das Album ist keine fünf Minuten alt, da tanzt schon Niklas Luhmann übers Spielfeld.
Neben der Harfe kommt auf "Diven" noch eine Reihe weiterer selbstgebauter Instrumente zum Zug, die fröhlich dengeln und trommeln, wummern und ratschen. Aus diesen vielseitigen Sounds speist sich ein unterhaltsames, eklektisches Gesamtkunstwerk, das in seine meist knapp siebenminütigen Songs mal Beat-Gewitter, mal Hörspiel-Elemente, mal Sprechgesang, mal mächtige Feedbacks integriert. Hier gibt's viel zu entdecken. Ein bisschen Konzentration beim Hören schadet jedenfalls nicht.
Das Album ist trotz seiner durchaus komplex angelegten Songs und einigermaßen metaphysischen Texte wunderbar schwebend, was in der Hauptsache an Unsterns hoher Singstimme liegt. Auch wenn sich die Melodien nicht zum Mitsingen eignen, rauschen sie doch schnell in den Kopf. Und da hallen dann auch diese wundersamen Textzeilen nach: "Hey / Wusstest Du / Mit meiner Verkörperung / Lässt sich die Brust anlegen / Für die Kleinen / Ja die Babys". Für überzeugte Cis-Männer mit AfD-Hintergrund dürfte das nicht zu ertragen sein. Für alle, die sich auch mal eine E-Harfe bauen möchten, dafür umso mehr.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Haare zu Gold
- Keine Zeit
Tracklist
- Selbstauslöserin
- Nichtstestotrotzdem
- Bonbos aus Plastik
- Haare zu Gold
- Keine Zeit
- Geldmoney
- Rasurzwang
- Cis
Im Forum kommentieren
Libidodadidum
2020-05-01 18:04:49
"Nichtstestotrotz" ist bisher übrigens mein Liebling vom neuen Album :D
Finde, es klingt auch gar nicht so sehr nach den Zitronen, der Eindruck entsteht mMn nur, weil es diesen improvisierten, gedankenflussartigen Charakter hat.
Libidodadidum
2020-05-01 16:37:45
"grauenvoll" "scheusslich"
Ganz schön harte Urteile, finde ich, auch, wenn sie von zwei verschiedenen Personen stammen. Zitronen-artiges gab es vorher z.B. mit "Anglet" bereits, Unsterns Alben sind insgesamt ziemlich sprunghaft und die Polarisierung kann ich schon verstehen.
"Paris" mag ich (wunderschöner Text), die größte emotionale Wucht entfalten bei mir aber "Ein Coversong" und "Ergiebig und erschwinglich".
"Ich schäme mich" vom zweiten Album hingegen, halte ich für einen richtigen Mitsing-Hit. :D
Und: Ich liebe die Texte, weiß zwar nicht ob deren Interpretationen überhaupt verallgemeinerbar wären, aber mir (und für mich) bedeuten sie auf jeden Fall etwas, womit ich ja nicht allein zu sein scheine.
SussexRoyal
2020-05-01 15:52:22
"Paris" ist der wahrscheinlich beste deutschsprachige Popsong der letzten 10 Jahre, aber jetzt höre ich gerade "Selbstauslöserin", das ist ja wirklich scheusslich. Danach "Nichtsdestotrotz" klingt dann einfach nur nach den Goldenen Zitronen. Ich bin da raus.
Kamm
2020-04-30 11:50:01
Ich kenne bisher auch nur die "Kratz dich raus". Ich kann natürlich nicht beurteilen, inwiefern er sich musikalisch entwickelt hat, aber besagtes Album hat musikalisch wie lyrisch viel zu bieten. Eine Harfe gibt es auch da schon, z. B. im wunderschönen "Endlos Endlos", das mit einer simplen Refrainmelodie aufwartet, die mit ein paar Kniffen klimatisch gesteigert wird. Für mich ein Gänsehaut-Garant.
Die Lyrics sind zwar vordergründig oft dada und gaga, aber wenn man es schafft, sie zu entschlüsseln, können sie einen starken emotionalen Punch entwickeln. "Paris" hat es mir da besonders angetan, dazu habe ich nicht nur einmal Tränen vergossen. :)
Xavier
2020-04-29 23:20:03
Mal sehen, vielleicht bin ich ja gezwungen, meine Kriterien in Frage zu stellen, um jene Verknüpfung von Musik und Metaphysik zu beurteilen - und ich glaube wirklich nicht, dass dies das beste Harfenspiel ist, das ich je vernommen habe.
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