EOB - Earth

Capitol / Universal
VÖ: 17.04.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Eine Frage der Anatomie

Denkt man an Radiohead, so kommt einem als Erstes wahrscheinlich Thom Yorke in den Sinn, der als Frontmann und Hauptsongwriter das Herz der Gruppe ist. Vielleicht denkt man zunächst aber auch an Jonny Greenwood, der mit seinem visionären Sounddesign vielleicht als das Hirn der Band bezeichnet werden kann. Phil Selway ist hingegen das Uhrwerk am Schlagzeug, verlässlich, bodenständig, im anatomischen Sinne das Rückgrat. Bassist Colin Greenwood wirkt mit seinem soliden Spiel, das in nur seltenen Momenten Ausbrüche wagt, wie das Nervensystem, das für wichtige Impulse zuständig ist. Doch welche Aufgabe in diesem sensiblen Geflecht übernimmt eigentlich Ed O'Brien, der als zweiter Gitarrist meist ein wenig im Schatten bleibt? Für was steht der lange Kerl, der einst zugab, die elektronischere Ausrichtung von Radiohead etwas unheimlich zu finden, weil er als klassischer Gitarrist zunächst mit dem Paradigmenwechsel fremdelte?

Fragen wie diese könnte nun "Earth" beantworten, das erste Solowerk des Briten. Veröffentlicht wird es unter dem Akronym EOB, so dass man zunächst vielleicht gar nicht die Verbindung zum Mutterschiff herstellen kann. Spannend ist die Beschäftigung mit dem Album allemal, für Radiohead-Aficionados aber freilich in besonderem Maße: EOB orientiert sich zwar spürbar am Sound der Hauptband, lässt also einige Trademarks einfließen, ohne jedoch bloß zu kopieren. "Earth" ist vielmehr eine akustische Reise durch die eigene musikalische Biografie, die vor allem Höhen und künstlerische Häutungen kannte. O'Briens Songs sind dabei weniger verfrickelt, oft sogar reichen ihre Wurzen in urwüchsigen, melancholischen Folk, wie man ihn von Nick Drake kennt. In "Long time coming" beispielsweise spielt EOB zurückgelehnten Akustikpop, der an den gedämpften Sound der Siebzigerjahre erinnert. "Deep days" ist in der Anlage ähnlich gestrickt, die Rhythmik gemahnt jedoch an O'Briens Hauptband und auch stimmlich bewegt sich der Brite so manches Mal in Yorke'sche Sphären. Zu vernehmen ist dies auch im knarzigen, pluckernden Opener "Shangri-la", der mit einem Auge auf die elaborierten Dancefloors schielt.

Neben diesen eher konventionell gehaltenen Songs versucht sich EOB auch in ausufernden Longtracks: "Brasil" ist ein achteinhalbminütiges Epos, das ruhig und besinnlich startet, nach ein paar Minuten jedoch zu einem pulsierenden Ambient-Ungetüm mutiert, während im Hintergrund die Beats stoisch pumpen und sich gegen Ende die Klangräume klaustrophobisch verdichten. "Olympik" hingegen beginnt als stockend atmender Neunziger-Rave-Track: Wie durch ein Kaleidoskop betrachtet taumeln Melodien und Beats ins Sichtfeld, ändern jäh ihre Gestalt, finden neu zusammen, fallen auseinander. Ein Song, der in seiner trippigen Wucht das klarste Distinktionsmerkmal gegenüber Radiohead darstellt. Und uns mit spielender Leichtigkeit zur eingangs gestellten Frage zurückbegleitet und gleichzeitig eine mögliche Antwort liefert: Ed O'Brien ist der zuckende Muskel in einem Körper, der sich weigert stillzustehen.

(Kevin Holtmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Shangri-la
  • Brasil
  • Olympik

Tracklist

  1. Shangri-la
  2. Brasil
  3. Deep days
  4. Long time coming
  5. Mass
  6. Banksters
  7. Sail on
  8. Olympik
  9. Cloak of the night (feat. Laura Marling)
Gesamtspielzeit: 46:04 min

Im Forum kommentieren

VelvetCell

2020-07-03 19:30:46

Im übrigen finde ich das Album sehr klasse.

The MACHINA of God

2020-07-03 15:35:34

Hehe, stimmt.

VelvetCell

2020-07-03 13:25:42

"Banksters" ist der beste Depeche Mode-Song seit langem.

Voyage 34

2020-05-03 13:17:55

Nette Platte, der Opener hat im dritten Durchlauf einen Weg gefunden, vielleicht offenbart sich vom Rest auch noch mehr. bisher 7/10

boneless

2020-05-03 13:15:49

Ganz tolle Scheibe. Alle Bandmitglieder von Radiohead verstehen ihr Handwerk wie kaum jemand anderes. Zu diesen Zeiten ein echter Lichtblick.

Dem kann ich nur beipflichten. Wirklich klasse Platte, diese durchweg positive Grundstimmung reißt einen gut mit und überhaupt mag ich es, wie gekonnt O'Brien Folk und Elektronisches verbindet. Sicher ist nicht alles so hübsch wie Shangri-La oder Olympik, trotzdem eine sehr runde Angelegenheit.

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