Die Wilde Jagd - Haut

Bureau B / Indigo
VÖ: 17.04.2020
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Simsalabim

Und da ist es passiert: Die Wilde Jagd sind endlich komplett durchgeknallt. Ihr drittes Album "Haut" klingt zwar ähnlich wie der Vorgänger "Uhrwald Orange", wagt sich jedoch deutlich weiter hinaus. Wohin? Berechtigte Frage. Man weiß es nicht. Ins Niemandsland? In die geschlossene Anstalt? Egal. Dort, wo das Duo sich befindet, gibt es auf jeden Fall keine Grenzen mehr. Schon der Blick auf die Spielzeit lässt ahnen, wo der Frosch die Locken hat. Vier Tracks in 45 Minuten. Keine Popsongs, keine eingängigen Zwischenspiele mehr. Stattdessen die volle Dröhnung Krautigkeit. Dabei beginnt alles ganz unspektakulär. "Empfang" wabert minutenlang vor sich hin, bevor sich ganz langsam ein Drumloop in den Vordergrund schleicht. Aber das ist natürlich so gewollt. Immer dichter, immer drängender wird die Musik, ehe sie sich so verflüchtigt, wie sie gekommen ist. Wie es sich gehört für ein Album, das tatsächlich nur als Ganzes funktioniert. Stück für Stück, Schritt für Schritt ins Paradies.

"Himmelfahrten" macht dort weiter, wo seinerzeit "Ginsterblut" aufgehört hat. Diesmal mit Frauengesang und einem Sound, der sprachlos macht. "Wenn der Aal im großen Wagen / Und der Bär im siebten Haus / Wollen wir ihre Früchte tragen / Ihnen nur am nächsten sein", verkündet Sänger Sebastian Lee Philipp. Als Hörer hat man nur zwei Optionen: Entweder man nimmt das alles schulterzuckend zur Kenntnis oder verfällt dem Stück komplett. Der Song wogt auf und nieder, Strophen und Refrains wechseln sich ab, die Intensität nimmt immer weiter zu. Nach über fünf Minuten grätscht plötzlich eine verzerrte Gitarre ins Klangbild. Musik über und für LSD-Trips ist das. Nach dem Höhepunkt verliert auch dieser Song sich in einem atmosphärischen Outro, das vielleicht lang dauert, aber keinesfalls überflüssig ist. Die Verse hallen im Gedächtnis nach, der Mond scheint durchs Fenster. Wo ist der Mensch? In der Wüste, im Wald, allein.

Aber mit Elektrizität. Ein Wummern dringt durch Mark und Bein. Das Ohr ahnt Künftiges. Ohne Hast verdichten sich die Klänge. Ein Rauschen hier, ein Schlingern da. Irgendwo ganz hinten vielleicht Stimmen. Die "Gondel" hebt ab. Aus dem Dickicht der Klänge schält sich ein Rhythmus. Just als man sich damit abgefunden hat, dass das nun ewig so weitergeht, endet die Steigerung. Zurück bleibt das Dröhnen. In der Endlosschleife gefangen ergibt sich ein Schicksal. Die Eule ruft ihresgleichen. "Sankt Damin" beginnt. Gitarrenakkorde schweben durch die Reste des Bewusstseins. Ein Zug rollt heran, ratternd und schnaufend. Geschichte wird gedacht, es geht voran. Und plötzlich Gesang: "Voll Kriegeslust mundet der Liebeskuss / Tief ist sein Fieberfluss / Trink auf, trink auf." Bitte, was? Aber es funktioniert. Es ergibt Sinn. Genau diese Worte müssen sein, jetzt und hier. Woher diese Musik kommt, ist ein Problem zukünftiger Generationen. Die Wilde Jagd sind vielleicht keine Band für jeden. Aber für alle, die bereit sind, sich zu verlieren.

(Christopher Sennfelder)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Himmelfahrten
  • Sankt Damin

Tracklist

  1. Empfang
  2. Himmelfahrten
  3. Gondel
  4. Sankt Damin
Gesamtspielzeit: 45:19 min

Im Forum kommentieren

captain kidd

2020-05-02 19:56:30

Gefällt mir auch ganz gut - quasi The Beta Band auf deutsch. Einzig gutes Nicht-Jazz-Album derzeit. Aber bald kommt ja endlich das neue Album der Dixie Chicks...

myx

2020-05-02 09:08:21

"Haut" lief hier gestern auch. Faszinierendes Ding. Wir haben jedenfalls gebannt (und auch ein bisschen schmunzelnd) diesen scheinbar aus Zeit und Raum gefallenen Klängen gelauscht. Habe dann noch "Uhrwald Orange" drangehängt, auch grossartig, Vinyl ist bestellt. Für mich ist Die wilde Jagd eine der interessantesten Entdeckungen der letzten Zeit.

ExplodingHead

2020-05-01 16:34:29

Das Album HAUT rein... voll auf die 12!
Gefällt mir ausgesprochen, aber unaussprechlich gut.

Ich geh jetzt Bullen melken... oder so.

XTRMNTR

2020-04-18 19:02:27

Irgendwie tolle Musik, auch wenn nicht ganz greifbar. Eine Mischung aus Krautrock, Elektro und Minnesang.
Das perfekte Gegengift zum Radioprogramm oder den Top 20.
Keine Musik für die Geschlossene, eher die letzte Rettung davor.
Bitte mehr davon.

MM13

2020-04-17 18:56:16

nicht so einfach,einmal gehört ist defintiv zu wenig.spontan gefällt sie mir nicht so gut wie die letzte,aber das kann noch kommen.

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