Nine Inch Nails - Ghosts VI: Locusts
NullVÖ: 26.03.2020
Ja, Panik
"Ghosts VI: Locusts" ist vieles: Die Nachrichten, die Dir jeden Tag eine steigende Zahl an Infektionen und Toten entgegenschieben. Die Sonne, die dir durchs Fenster höhnisch auf den Homeoffice-Monitor scheint, während das Scheiß-VPN wieder den Geist aufgibt. Die unerträgliche Distanz zu allen, die Du Freunde oder Familie nennst. Der drohende wirtschaftliche und gesundheitliche Kollaps des Systems und die Gefahr oder Gewissheit, dass Dein eigener Job bald nicht mehr da ist. Klar sind diese ebenfalls instrumentalen Stücke aus dem gleichen Holz geschnitzt wie das zeitgleich von Trent Reznor ins Netz gestellte "Ghosts V: Together". Doch wo dort noch an vielen Stellen Hoffnung durchschien, ist es nun zappenduster. "The cursed clock" macht direkt klar, dass Nine Inch Nails diesmal die Klänge dorthin lenken, wo es in der Seele wehtut. Das Klavier spielt verminderte Tonleitern, es pfeift und dröhnt mehr als unheilvoll, eine leichte Übersteuerung liegt wie Patina über dem Horrorsound. Und das ist erst der Beginn.
Mit dem folgenden "Around every corner" erscheint eine Trompete im Bild, die für mehr als 20 Minuten ein fester Bestandteil der Platte bleibt. Sie wirkt wie ein Apostel der Apokalypse, die draußen vor dem Fenster liegt. Das mag pathetisch klingen, aber "Ghosts VI: Locusts" begnügt sich selbst auch nicht mit kleinen Statements. "The worriment waltz" fährt nur zunächst die Schiene des Geschwisteralbums, das allgegenwärtige Blasinstrument sorgt aber dafür, dass dieser Trip unbequemer wird als eine Nacht auf dem Nagelbett. Mittendrin walzt sich ein schwarzes, gefräßiges Noise-Ungeheuer an die Ohren heran und verschluckt einen mit Haut und Haar. Im Bauch des Biests ist der Lärm zwar nicht mehr hörbar, aber dafür fehlt auch jegliches Licht. Nicht selten denkt man an dystopische Zeitlupen wie Bohren & Der Club Of Gore, nur ohne Anflüge von jazziger Leichtigkeit.
In "Run like hell" steht die Percussion im Vordergrund, welche erst die Trompete umkreist und dann in einen Breakdown verfällt, der ein wenig an den Mittelteil des seligen "The perfect drug" erinnert. Wie als Kontrast zu diesen dunklen Klangfarben klingelt "When it happens (Don't mind me)" aggressiv wach, rüttelt an der Schulter, ob man denn noch lebe. Einer der erdrückendsten Momente ist überraschenderweise nur eine Art Interlude. Das im vergeblichen Startversuch steckengebliebene Auto von "Another crashed car", zu dem sich später ein Telefon ohne Verbindung gesellt, malt Bilder einer völlig dysfunktionalen Welt mit den Mitteln der frühen Godspeed You! Black Emperor. Bis hierhin haben Nine Inch Nails kaum je Pessimismus und Trostlosigkeit so meisterhaft vertont – und das heißt einiges. Wer sich in Isolation schon sehr einsam fühlt, der sollte gut überlegen, ob die erste Hälfte "Ghosts VI: Locusts" das Gefühl nicht unweigerlich noch verschlimmern könnte. Mehr als einmal hat man das Gefühl, diese Stücke wollen einen regelrecht demütigen.
Nach diesem grandiosen, aber eben auch erschöpfenden Beginn werden die Zügel allerdings etwas lockerer gehalten. Verschiede kürzere Skizzen bilden den Kontrast zu den ausschweifenden Kompositionen zu Beginn und zu denen von "Ghosts V: Together". Das mag notwendig sein, schließlich sind 83 Minuten ohnehin kein kurzer Spaziergang, es bringt "Ghosts VI: Locusts" aber auch wieder in irdische Dimensionen zurück. Das ist aber Jammern auf hohem Niveau. Die abseitige Atmosphäre ziehen Reznor und seine Gefährten auch im weiteren Verlauf durch und fesseln nach wie vor. "A really bad night" und "Your new normal" rufen nicht nur aufgrund ihrer Titel einen Bezug zur Corona-Krise her, verbreiten mit heulenden Synth-Schwaden ordentlich Unruhe. "Just breathe" ist in dieser Hinsicht noch unangenehmer, das Rauschen im Hintergrund klingt wie das schwerfällige Schnaufen einer Person, der das Atmen immer schwerer fällt.
Vermutlich weiß Reznor selbst, was für ein Brocken "Ghosts VI: Locusts" ist, wenn er das längste Stück "Turn this off please" nennt. Würde man im Normalfall als Ironie abtun, in diesem leidenden und paranoiden Kontext scheint jegliche Distanz aber undenkbar. Es wird ständig lauter und leiser, aber niemals in irgendeiner Form von der endlosen Schwärze abgekehrt, welche dieses Album ausfüllt. Oder: fast ausfüllt. Denn wo "Ghosts V: Together" mit einem Twist endete, tut "Ghosts VI: Locusts" es im invertierten Farbspektrum gleich. "Almost dawn" muss zwar auch noch den letzten Albtraum überstehen, die letzte Noise-Attacke durchleiden, doch es ist unmissverständlich, was in den letzten Sekunden zu hören ist: ein schlagendes Herz. Und damit weißt Du Bescheid. Auch wenn jetzt gerade alles beschissen zu sein scheint und Du vor lauter Sorgen und Ängsten nicht mehr weiter weißt, es geht vorbei. Du überlebst und die Schwärze ist nicht von Dauer.
Highlights & Tracklist
Highlights
- The cursed clock
- The worriment waltz
- Run like hell
- Another crashed car
Tracklist
- The cursed clock
- Around every corner
- The worriment waltz
- Run like hell
- When it happens (Don't mind me)
- Another crashed car
- Temp fix
- Trust fades
- A really bad night
- Your new normal
- Just breathe
- Right behind you
- Turn this off please
- So tired
- Almost dawn
Im Forum kommentieren
Felix H
2023-10-29 23:40:13
Richtig toll, absolut.
The MACHINA of God
2023-10-29 22:17:33
Love it auch.
fuzzmyass
2020-12-31 17:28:18
Leider nur ein mal gehört, muss ich häufiger machen... wenn ich nur digitale Files habe, komme ich manchmal nicht dazu etwas ausgiebig zu hören...
Grundsätzlich bin ich aber großer Fan der Instrumentalen Seite und auch der Soundtracks von Reznor & Ross...
Affengitarre
2020-12-31 17:28:00
Möchte nicht jeden deiner tollen Texte zu deinen Alben des Jahres einzeln kommentieren, finde es aber super, dass du sie nochmal in die jeweiligen Albenthreads postest. Da steckt man doch so viel Mühe rein, es wäre zu schade, wenn sie in diesen Listenthreads sang- und klanglos wieder untergehen.
The MACHINA of God
2020-12-31 16:22:19
Jahresendbetrachtung:
Das “belebtere” der beiden Alben. Kam mitten im ersten Lockdown und gehört genau dorthin. Für mich war Trent Reznor immer schon mehr ein Meister der Klänge als ein Songwriter, von daher vermisse ich klassische Songs bei ihm nicht so sehr. Was ich an dem Album besonders liebe, ist, wie er langsam in Lynch-Gefilde abdriften (wohl durch die ganze Soundtrack-Arbeit). Gerade die Bläser in “Around every corner” und “The worriment waltz” geben der Atmosphäre das wunderbar “verlorene”... und dann kommt “Run like hell” und diese fantastischen Drums. Wenn schon fucking Lockdown, dann so. 8/10
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