Heaven Shall Burn - Of truth and sacrifice

Century Media / Sony
VÖ: 20.03.2020
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Viel Mann, viel Wort

Es soll ja niemand behaupten, dass Bands bei heutigen Hörgewohnheiten kein Risiko mehr eingehen. Ja ja, natürlich war früher alles besser und so, aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: So richtig intensiv will sich niemand mehr mit einer Platte beschäftigen, den einschlägigen Streaming-Diensten sei Dank, die jeglichen Musikgenuss in mundgerechte Häppchen zusammenschnippeln. Und dann kommen da Heaven Shall Burn und zeigen all dem den Mittelfinger mit Sternchen. Dass die Musik der Thüringer Metalcore-Truppe per se schon wuchtig genug ist, steht eh außer Frage, ebenso, dass der Fünfer seit Beginn an Wert auf aussagekräftige, persönliche Lyrics legen. Aber ein 97 Minuten dauerndes Doppelalbum zu produzieren, wo man 2018 doch eigentlich eine Pause angekündigt hatte, das ist schon gewagt. Die Frage kann also nur lauten: Funktionieren Heaven Shall Burn, funktioniert Metalcore mit einer kräftigen Dosis Melodic Death auch auf der Marathon-Distanz, ohne zu ermüden oder nach der Hälfte in Füll-Geballer zu versinken?

Und wie das funktioniert! Zumindest wenn die vermeintliche Pause dazu genutzt wird, sehr viel Zeit ins Songwriting zu stecken. Zunächst einmal gibt es allerdings nach kurzem Intro mit "Thoughts and prayers" derbst was ins Gesicht. Unterstützt von einer überaus wuchtigen Produktion, donnern die Gitarristen Maik Weichert und Alexander Dietz Riffs auf Höchstniveau heraus, weitab von dem Reißbrett-Programm, welches so manche Trendreiter während des Metalcore-Hypes zu liefern pflegten. Doch was ist hier überhaupt noch Metalcore? Klar, so manche Dynamik-Spielchen sind immer noch urtypisch für diese Spielart, aber im Grunde beginnt die erste CD mit lupenreinem Thrash, der sich auch hinter Vorreitern wie Kreator weiß Gott nicht verstecken muss. Bestes Beispiel dafür ist "Protector" – zu Beginn eine Abrissbirne allererster Güte, arbeitet der Song mit tollem Spannungsbogen auf einen Refrain hin, der wohl live innerhalb kürzester Zeit von jedem Publikum von Herzen mitgesungen werden kann: "Don't be afraid, I'm by your side / So strong in mind, we'll take their hearts by storm / And no amnesty for our enemies / I am your shield and sword."

Was Heaven Shall Burn allerdings momentan wirklich spannend macht, ist nicht etwa das vehemente Eintreten für Natur und Umwelt wie bei "My heart and the ocean", das ist spätestens seit "Hunters will be hunted" vom Album "Veto" wohlbekannt. Vielmehr wird mit zunehmender Spielfreude deutlich, dass die Thüringer immer wieder aus ihrer Komfortzone ausbrechen, um sich selbst auszuprobieren, aber auch, um neue Reizpunkte zu setzen. Das wird schon auf der ersten CD mit der kleinen Rammstein-Einlage bei "Übermacht" oder vor allem bei "Expatriate" deutlich, bei dem sich bedrückende Samples und emotionale Begleitung durch das Orchester der Bolshoi-Oper Minsk die Hand reichen, bis die Spannung durch einen wuchtigen Refrain aufgelöst wird. Wenn Genre-Grenzen nicht mehr existieren, darf sich extremer Metal frei entfalten – mit "Expatriate" als fulminante Blaupause dessen, was daraus entstehen kann.

Vermutlich genau deshalb wird der zweite Tonträger zu einer noch interessanteren Spielfläche für die Experimentierfreudigkeit der Saalfelder. "Children of a lesser god" wildert noch ein wenig im Göteborger Revier von Dark Tranquillity oder In Flames, doch schon "La résistance" überrascht und überzeugt als beängstigend gute Mischung aus tanzbaren Beats, fetten Chören und enthemmten Growls, als würden Rammstein plötzlich Death Metal spielen. Das folgende "The sorrows of victory" vergräbt sich nicht zuletzt durch die Unterstützung von Chris Harms von Lord Of The Lost in die Untiefen des Goth Metal. Genau so funktioniert es, wenn man mit dieser Albumlänge über 19 Songs Reizpunkte setzen will, setzen muss. Die dann umgehend von Eruptionen wie "Stateless" oder der Coverversion von "Critical mass" der New Yorker Thrash-Legende Nuclear Assault niedergeknüppelt werden, nur um zu zeigen, wer immer noch Herr im Hause ist. Doch auch wenn sich an ein, vielleicht zwei kleinen Stellen wie bei "Truther" das ein oder andere konventionelle Riff eingeschlichen haben mag, zeigt sich, dass sich das Experiment für die Thüringer gelohnt hat. Mehr noch: Die Truppe, deren Mitglieder nach wie vor ganz bewusst einem geregelten Vollzeitjob nachgehen, rammt mit "Of truth and sacrifice" einen Pflock in den Boden des extremen Metal, an dem sich noch so manche namhafte Band messen lassen muss.

(Markus Bellmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Protector
  • Expatriate
  • La résistance
  • Weakness leaving my heart

Tracklist

  • CD 1
    1. March of retribution
    2. Thoughts and prayers
    3. Eradicate
    4. Protector
    5. Übermacht
    6. My heart and the ocean
    7. Expatriate
    8. What war means
    9. Terminate the unconcern
    10. The ashes of my enemies
  • CD 2
    1. Children of a lesser god
    2. La résistance
    3. The sorrows of victory
    4. Stateless
    5. Tirpitz
    6. Truther
    7. Critical mass
    8. Eagles among vultures
    9. Weakness leaving my heart
Gesamtspielzeit: 97:42 min

Im Forum kommentieren

8hor0

2020-04-07 19:09:27

https://www.youtube.com/watch?v=qs-YgPp0bHg

whitenoise

2020-04-06 14:03:12

Schon beim ersten Hördurchgang habe ich das Album komplett durchgehört. Das spricht für seine auch auf fast 100 Minuten große Bandbreite. Klar, zwei oder drei reine Baller-Nummern hätte man sich (aus meiner etwas genrefremden Sicht) schon sparen können, aber insgesamt eine ihrer besten.

Marküs

2020-04-04 12:48:38

VOLL geil die Scheibe, sogar ihre viertbeste! Dauerrotation seit zwei Wochen. Bester Songs: Protector, My heart and the Ocean, Tirpitz, Expatriate, Eagle among vultures, Übermacht. Was für ein Album. Wird nur vom unheiligen Trippel What ever it may take, Antigone und Deaf to our prayers noch geschlagen

Schwarznick

2020-04-04 11:59:48

brettert ordentlich!
und auch lombardi kennt sie ja mittlerweile *fg*

kiste

2020-04-04 08:48:07

Die Kritik bringt es sehr gut auf dem Punkt, was das Album auch für mich so spannend macht. Die letzte Platte zeigte ja schon irgendwie in diese Richtung, doch da wirkte die kreative Handbremse noch etwas angezogen.
Als Highlights habe ich für mich noch Tirpitz ausgemacht. So toll ich die Aufmachung als Doppelalbum mag, dennoch sind die 97min bisher noch nie am Stück bei mir gelaufen. Vielleicht schaffe ich es ja demnächst mal ;)

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