Morrissey - I am not a dog on a chain
BMG / WarnerVÖ: 20.03.2020
Sitz! Platz! Aus!
Ach, Morrissey hat es schon nicht leicht. Die ganze Welt hat sich gegen ihn verschworen. Allen voran die aus der Sicht des Ex-Smith notorisch verlogenen Medien und unter diesen insbesondere der korrupte NME und der sinistre The Guardian. Aber auch vom Magazin Der Spiegel fühlte er sich in der Vergangenheit unfair behandelt, weil dieses sich doch tatsächlich erdreistete, ein Interview zu publizieren, in welchem der Mozzer unter anderem sexuelle Gewalt bagatellisierte und Berlin vor dem Hintergrund der Flüchtlingspolitik Angela Merkels als "Vergewaltigungshauptstadt" bezeichnete. Später will er das alles so nicht gesagt haben, doch blöderweise gibt es einen Mitschnitt des Gesprächs. Weil der heroische Streiter für Meinungsfreiheit und gegen Political Correctness aber offenbar auch diesen hinterhältigen Angriff überstanden hat, ohne dass die Eigenwahrnehmung ins Wanken geriet, klopft er sich auf seinem neuen Album selbst auf die Schulter: "Congratulations / You have survived / Congratulations / You're still alive / They kicked to kill you / Do not forget / They tried to turn you / Into a public target."
Diese Sätze zeugen nicht nur von außergewöhnlicher Eloquenz – dazu später mehr –, sondern unterstreichen auch, dass sich hier jemand trotz all der Widrigkeiten und Gemeinheiten, die ihm allenthalben begegnen, nicht unterkriegen lässt. Wie auch Ende September 2019, als es während eines Konzerts in Portland zu wahrlich impertinenten Protesten kam. Was war geschehen? Im Zuschauerraum wurde ein Schild mit der Aufschrift "Bigmouth indeed" und ein weiteres mit dem durchgestrichenen Logo der von Morrissey öffentlich unterstützten rechtsextremen Partei "For Britain" hochgehalten. Der Sänger skandierte daraufhin "Go! Go! Go!" und "We dont' need you, goodbye!" und ließ die Störer unter dem johlenden Beifall der Menge rauswerfen. So sieht wahrer Heldenmut aus.
Kein Zweifel, Morrissey ist ein Idiot. Vielleicht war er das schon immer und wir haben nur nicht genau hingesehen oder das Ganze als ein provokantes Spiel abgetan und ihn vorschnell entschuldigt. Aber auch Idioten fabrizieren mitunter große Kunst. Genau das ist allerdings der Haken an der Sache – denn so durchweg überzeugend geriet ja keines von Morrisseys jüngsten Werken. "I am not a dog on a chain" macht nun immerhin nicht den Fehler, sich allein in der Wiederholung der Vorgänger zu erschöpfen und verabschiedet sich endgültig vom breitbeinigen Altherrenrock, wie er vor allem auf "Ringleader of the tormentors" und "Years of refusal" vorherrschte. "Jim Jim falls" biegt unerwartet mit einem Achtziger-Jahre-Elektropop-Beat um die Kurve und gibt damit einen ersten Eindruck von der neuen musikalischen Vielfalt. Was im Opener trotz des wirklich starken Refrains aber insgesamt noch zu unausgegoren daherkommt, wirkt in "Once I saw the river clean" schon ausgereifter. "'Stop me if you think you’ve heard this one before' but produced by Bronski Beat", wie ein englischsprachiger Rezensent süffisant bemerkte. Dennoch gehört der Song in seiner Geradlinigkeit zu den besseren Momenten. Wo der larmoyante Gesang des Mozzers in den letzten anderthalb Dekaden viel zu oft verloren gegen hemdsärmelige Gitarrenriffs ankämpfen musste, wird er nun getragen von schwerelos wabernden Synthies.
"I am not a dog on a chain" ist bereits die vierte Zusammenarbeit in Folge mit Produzent Joe Chiccarelli, der aus dem Schwärmen über seinen Künstler gar nicht mehr raus kommt: "This is his boldest and most adventurous album yet. He has pushed the boundaries yet again both musically and lyrically." Ob das auch die Grenze zum hemmungslosen Eklektizismus meint, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Tatsächlich wirkt vieles wie Stückwerk, nette Ideen wechseln sich ab mit schlechten Einfällen wie beispielsweise dem überflüssigen Kinderchor in "Love is on its way out", das ansonsten durchaus zu gefallen weiß. Ebenso wie "Bobby, don't you think they know?", das opulenten Sixties-Soul-Pop mit Saxophon-Solo und Motown-Legende Thelma Houston als Gastsängerin präsentiert. Was man von dem instrumental völlig überfrachteten und unentschlossen schlingernden "The truth about Ruth" wiederum nicht behaupten kann. Und auch "The secret of music" plätschert mit seinen Kraut-Anleihen und einer Spielzeit von fast acht Minuten gemächlich in Richtung eines Abgrunds namens Langeweile. "What kind of people live in these houses?" befriedigt zumindest die nostalgischen Bedürfnisse der Anhängerschaft und gibt einen lakonischen Kommentar zum Konformismus und der Saturiertheit des britischen (Klein-)Bürgertums ab.
An die Frühphase von Morrisseys Solokarriere erinnert auch "Darling, I hug a pillow", das aber mit unpassenden Mariachi-Trompeten und textlicher Einfallslosigkeit nervt – und das somit einmal mehr deutlich macht, dass von der poetischen Finesse der Smiths-Zeiten über die Jahre immer weniger geblieben ist. Bizarr bis tragisch erscheint diese Verkümmerung einstigen Talents im Falle des Titelsongs, der so gern irgendwie gewitzt und hintergründig wäre. "I raise my voice / I have no choice / [...] / I am not a dog on a chain / I use my own brain / I do not read newspapers / They are troublemakers." Das selbstgerechte Lamento, das Ursache und Wirkung auf perfide Weise verkehrt, ist im Grunde auch nicht viel subtiler als das "Fuck The Guardian"-Shirt, mit dem Morrissey bei einem Konzert in Los Angeles posierte. Aber es passt ins Bild eines sich ewig missverstanden wähnenden Außenseiters, der in Wahrheit doch nur ein reaktionärer Kotzbrocken ist und sein Fähnchen nach dem Wind richtet. Und trotzdem geht es schlussendlich nicht darum, ob man seine Musik als Person, die sich selbst als einigermaßen tolerant und progressiv versteht, denn jetzt noch hören darf oder nicht. Die wirklich interessante Frage lautet, was Morrissey dieser Tage überhaupt noch künstlerisch zu bieten hat, dass die Beschäftigung mit ihm lohnen würde. "I am not a dog on a chain" liefert dafür nur wenige Argumente. "We don't need you, goodbye?" Ja, scheint so.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Jim Jim falls
- What kind of people live in these houses?
- Once I saw the river clean
Tracklist
- Jim Jim falls
- Love is on its way out
- Bobby, don't you think they know?
- I am not a dog on a chain
- What kind of people live in these houses?
- Knockabout world
- Darling, I hug a pillow
- Once I saw the river clean
- The truth about Ruth
- The secret of music
- My hurling days are done
Im Forum kommentieren
Z4
2023-01-22 11:19:52
Wenn man ihn sich wie Colm von Banshees of Inisherin vorstellt kann man das Album ganz gut hören. So ein alternder verbitterter Brite, der nur noch für Musik lebt ^^
Ninetiesman
2022-01-04 23:36:27
Die Musik von Morrissey interessiert mich eigentlich schon lange nicht mehr, aber ich höre mir jedes neue Album zumindest mal an. Vielleicht kommt noch ein spätes Meisterwerk, die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Zutrauen würde ich es ihm, die zwei sehr guten Alben "You are the Quarry"(2004) und "Ringleader of the Tormentors"(2006) hat ihm auch keiner mehr zugetraut.
Dieses Album hab ich erst vor einigen Tagen entdeckt und es ist leider um einiges schlechter als der halbwegs passable "Low in High School".
Ich kenne zwar nicht jedes Album, aber das hier könnte sogar sein schlechtestes sein.
"Jim Jim Falls" ist aber ziemlich genial muss ich sagen, bestimmt der beste Song. Sonst noch zwei, drei mittelmässige Tracks, das war's dann aber auch.
Johnny Marr bringt nächsten Monat übrigens ein neues Album raus, müsste inzwischen sein drittes oder viertes sein.
Die Single "Spirit Power and Soul" ist ne verkappte Querdenker-Hymne oder zumindest ein Song gegen die Technokratie. Aber alles im grünen Bereich,mir gefällts.
https://www.youtube.com/watch?v=qeqBn3BAMag
Klaus
2020-11-17 14:13:30
Wunderte mich eher dass die das nicht schon vor Jahren gemacht haben.
Wie dem auch sei: BMG selbst sagt es wäre nur der Vertrag ausgelaufen.
Gordon Fraser
2020-11-17 13:28:32
BMG hat ihn mit sofortiger Wirkung gedroppt. Der Mozzer also mal wieder ohne Plattenvertrag. That joke isn't funny anymore...
tumbleweed
2020-04-01 07:38:35
EP gereicht? Wer macht das denn schon? Und wo ist das nicht so? Ein paar Kracher und der Rest mittelprächtig....
Bei der neuen Pearl Jam zumindest geht es mir auch so.
Auf jeden Fall mus sich Lichtgestalt rechtgeben. Diese Bronski-Beat-Nummer ist ein toller Song.
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