Agnes Obel - Myopia

Deutsche Grammophon / Universal
VÖ: 21.02.2020
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Stirb gut und träum was Schönes

Wenn eine Musikerin Probleme mit dem Schlaf hat: Agnes Obel kam nachts nicht zur Ruhe, gemütliches Wegschlummern war unmöglich. Da die in Berlin ansässige Dänin keine halben Sachen macht, fing sie darauf hin an, die kulturelle Geschichte des Schlafes zu recherchieren. Und da stieß sie auf eine Verbindung, die für ihr neues Album "Myopia" von Bedeutung sein sollte, nämlich die zwischen Schlaf und Tod. Dass das Ausbleiben des ersteren auf einer Angst vor dem Zweitgenannten beruhen könne, war für Obel besonders faszinierend und erhellend. Und so ist Platte Nummer vier ein Grenzgänger zwischen dem entspannten Ruhehafen des Schlafes und der Endlichkeit aller Dinge, alles was mild und zutraulich erscheint, besitzt gleichzeitig eine morbide Komponente, die ins Jenseits verweist.

Als Beispiel sei das Instrumental "Drosera" genannt. Tänzelnd entrollen sich die Klaviertöne, Bläser und Streicher entfachen einen morbiden Karneval und es wirkt, als ob sich der Tod mit einem Augenzwinkern und vieldeutigem Grinsen ins nächtliche Bett schleicht. Hier spielen Verführung, Abgründigkeit aber auch Milde ein faszinierendes Spiel miteinander. Besonders hervorgehoben werden muss andererseits unbedingt der Gesang Obels auf "Myopia". Diesen unterzog die Künstlerin zahlreicher Manipulationen und Modulationen. Eindringlich geschieht dies auf der Vorabsingle "Broken sleep". Zwischen kristallinen Höhen und dumpfen Tiefseetauchgängen in geschlechtlichem Neutrum liegen manchmal nur ein paar Akkorde oder Tonfolgen. Dies verkommt dabei niemals zum reinen Experiment, die verschieden eingefärbten Gesangspassagen prägen massiv die Stimmung der Stücke, so dass zwischen Himmelreich und Schwefelgrube reizvolle Übergänge geschaffen werden.

Diese Beweglichkeit der Kompositionen ist die große Stärke eines Albums, welches Melancholie und Wehmut ambivalent abbildet. Die ersten Töne von "Island of doom", getragen von einem Unterwasserklavier, könnten auch der Auftakt zu einem EDM-Track sein. In ihnen steckt viel potentielle Tatkraft, man wartet fast auf den Startschuss einer Bass-Drum. Doch Obel fängt diese Lebendigkeit ein, dreht sie durch den stimmlichen Fleischwolf und landet letztendlich bei einer atmosphärischen Vielschichtigkeit, die sowohl für Trauer als auch für eine milde Zuversicht Anknüpfungspunkte bietet.

"Promise keeper" mäandriert dagegen durch emotionale Zwischenwelten, ätherische Gesangsschleifen verlängern sich zu einem matten aber luftigen Engelschor. Als weltlicher Taktgeber fungiert dabei allein der konstante Anschlag des Pianos. Man greift dieses Album nicht an einer markanten Stelle und hat es ganz verstanden. "Myopia" entzieht sich, kommt mal näher, verflüchtigt sich aber gerne auch ins Ungefähre. Dabei stranden quasi immer wieder Melodien im Ohr des Hörers, die sich nie zu einer emotionalen Eindeutigkeit versteifen, sondern den Wandel der Stimmungen in sich tragen. Da mag der Titelsong auf ein gravitätisches Cello zurückgreifen und ein paar markante Drums Ankerpunkte setzen, Obels Gesang windet und schlängelt sich dann doch meist aus einem allzu festen Zugriff heraus. Andererseits greift das abschließende "Won't you call me" auf eine milde Instrumentierung zurück, die aber dieses Mal mit einem durchaus konturierten und gefassten Gesang kontrastiert. Schwer zu fassen, also dieses Album, welches trotz eigentlich beschränkter Mittel, im Kern Klavier und Gesang, ein unheimlich weites Spektrum abdeckt. "Myopia" ist eben viel mehr als eine Einschlafhilfe, es könnte vielleicht sogar den Übergang ins Totenreich versüßen.

(Martin Makolies)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Broken sleep
  • Island of doom
  • Promise keeper
  • Won't you call me

Tracklist

  1. Camera's rolling
  2. Broken sleep
  3. Island of doom
  4. Roscian
  5. Myopia
  6. Drosera
  7. Can't be
  8. Parliament of owls
  9. Promise keeper
  10. Won't you call me
Gesamtspielzeit: 39:50 min

Im Forum kommentieren

Martinus

2024-01-14 18:36:43

Stimmt, die Ghosts müsste ich mal öfters hören, die hab ich eh daheim...
On Giacometti kenn ich gar nicht.
Danke für den Tip.

Unangemeldeter

2024-01-14 17:22:27

On Giacometti natürlich, verfluchter Autocorrect.

Unangemeldeter

2024-01-14 17:21:42

@Martinus: ist zwar ohne Gesang, die letztjährigen Alben von Hania Rani sind für mich aber stimmungsmäßig blutsverwandt mit den letzten zwei Obel-Alben. Insbesondere bei In Giacometti muss ich immer an die gute Agnes denken. Falls du die noch nicht kennst - traumhafte Musik.

Martinus

2024-01-11 12:21:37

Guter Tip NOK, wird direkt mal intensiver angehört !

NOK

2024-01-10 22:41:16

*dem

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