Shopping - All or nothing
FatCat / PIAS / Rough TradeVÖ: 07.02.2020
Kurz, aber nicht völlig sinnlos
In seinem Standardwerk "Die Verdammten dieser Erde" beschrieb der französische Psychiater und Kolonialismus-Theoretiker Frantz Fanon unter anderem, welche Rolle der Tanz für die Indigenen bei ihrem Umgang mit der Unterdrückung spielte. Da sollte man sich nicht vom Eindruck eher peinlicher Flashmobs davon abbringen lassen, dass Tanzen ein ernsthaft politischer Akt sein kann – sei es in der Kanalisierung von Wut oder im temporären Gefühl kollektiver Sorglosigkeit für gesellschaftliche Randgruppen. Insofern haben Shopping nicht ganz recht, wenn sie sich selbst als unpolitische Band sehen, nur weil die Hauptintention ihrer Musik auf die Tanzfläche zielt. Das in London gegründete Trio trägt die Fackel von Post-Punk-Originalen wie Gang Of Four so geistesnah weiter wie wenige andere: in der Klangästhetik, in den kritischen, aber nicht mahnenden Texten, im Protest durch Bewegung. So ist es auch kein Widerspruch, wenn Shopping die elektronischen Momente des Meisterwerks "The official body" auf "All or nothing" weiter ausformulieren. Sie glätten sich nicht zur belanglosen Synthpop-Band, sondern denken ihr grundlegendes Prinzip der aufrührerischen Kinetik konsequent weiter.
Die neue Unterkühlung irritiert im eröffnenden Titeltrack noch etwas, der sich mit schwer greifbarer Struktur von der einstigen Tightness zu distanzieren droht. Doch "Initiative" packt wieder fest zu, Rachel Aggs' angefunkte Gitarre und Billy Easters Bass schlängeln sich athletisch umeinander und Aggs mimt die Anheizerin: "Why can't you show some initiative", fordert sie, während sich der Song wie als Reaktion darauf zur einnehmenden Spirale aus Synthies und Drums auftürmt. Das Tempo ist stellenweise irrwitzig hoch, etwa in "Body clock", das nicht nur musikalisch kurz vorm Kollaps zu stehen scheint: "I need something to calm my nerves / I've just got to keep up the pace." Eine ähnliche Symbiose von Form und Inhalt schafft auch "Expert advice", wenn es mit bis zu drei übereinander geschichteten Gesangslinien seine Kritik am Informationsüberfluss abbildet. Kaum zu glauben, dass die Mitglieder von Shopping mittlerweile über Glasgow und Los Angeles verstreut sind, so natürlich wie ihre Instrumente wieder einmal ineinander klicken. Weniger unglaubwürdig ist die Aufnahmezeit von gerade einmal zehn Tagen bei der durchgehenden Intensität, die "All or nothing" hochhält. Einzig "About you" kommt einer Art Ruhepol nahe, was gut zu seinen introvertierten Lyrics passt.
Die bisher erwähnten Tracks könnten alle noch ein klassisches Shopping-Album bilden, doch in drei fast völlig gitarrenlosen Songs wirken Aggs, Easter und Drummer Andrew Milk wie aus dem Kokon geschlüpft. "Follow me" entführt in die abgedunkelte Disco und stochert auch textlich im Abstrakten. Geht es um exzessiven Social-Media-Gebrauch oder institutionelle Überwachung? Spricht Aggs mit Zeilen wie "Follow me, I'll make it worth it", Mensch oder Maschine an? "For your pleasure" lebt von einer vergleichbaren Ambiguität zwischen Hedonismus und Konsumkritik, macht mit wirbelnden Retro-Synthies und tollem Bassriff aber auch ohne doppelten Boden viel Spaß. Nicht nur hier lehnen sich die pulsierenden Beats gar an Techno und frühen Industrial an, auch das düstere "Lies" schlägt in eine ähnliche Kerbe. Shopping scheinen sich ihrer neuen Form selbst bewusst zu sein: "Reinvention / Dispossession / As a weapon." Doch am Ende untergraben sie diese Auffassung wieder, wenn sie den im Bandkontext traditionellsten Song der Platte vielsagenderweise "Trust in us" nennen. Ganz schön viele Unklarheiten für ein 30-minütiges, minimalistisches Dance-Punk-Album. Auf der Tanzfläche ist es zum Grübeln aber zum Glück zu laut.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Initiative
- For your pleasure
- Body clock
Tracklist
- All or nothing
- Initiative
- Follow me
- No apologies
- For your pleasure
- About you
- Lies
- Expert advice
- Body clock
- Trust in us
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Armin
2020-02-17 21:00:39- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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