Lee Ranaldo & Raül Refree - Names of North End women

Mute / Rough Trade
VÖ: 21.02.2020
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Die Ordnung entzieht sich

"I wanna be a man with nowhere to go." Der Raum wir langsam belebter. Ein Strudel aus Zeichen und Tönen, der sich in die Form einer Erzählung zu fügen scheint und sich zugleich der Kontrolle immer ein wenig entzieht. Dieser Ansatz ist für Lee Ranaldo, den man mit einigem Recht als den George Harrison von Sonic Youth bezeichnen könnte – hinter zwei schillernden Ikonen hielt er den Laden zusammen, um dort immer stärker seine eigene Handschrift zu entfalten – ein ewiger Quell der Kreativität. Aus dem Unbestimmten speist sich eine Ästhetik, die die Grenzen ihres Zugriffs erkennt und aushält, sei es in ausufernden Gitarren- und Noise-Improvisationen oder der hastig tastenden Lyrik der Beat Generation. Auf "Names of North End women" artikuliert Ranaldo diesen Konflikt so luzide und packend wie seit dem Ende seiner Hauptband nicht mehr. Unterstützt wird er dabei von Raül Refree, einem weiteren Innovator an der Gitarre, der vor ein paar Jahren gemeinsam mit dem inzwischen aufstrebenden Popstar Rosalía den Flamenco auf den Kopf stellte.

Zum Ausgangspunkt haben die akustischen Erkundungen der beiden: Frauennamen auf Straßenschildern, deren Hintergrund diffus bleibt, sowie einen Kassettenrekorder und ein Bandgerät voller Stimmen und Geräuschen, deren Herkunft ebenso schleierhaft erscheint. Funde bei Spaziergängen und Flohmarktbesuchen Ranaldos, die dann wiederum abstrakte Experimente und Ambientloops hergaben. Auf diesem Fundament komponieren Ranaldo und Refree in der Folge acht Stücke, die sich einen Reim auf das Gefundene machen: "to single out the things that have no name." Der Opener "Alice, etc." arbeitet mit den flüchtigen Bildern in Ranaldos Prosagedicht, einer verspulten John-Fahey-Gitarre, entfernten, desolaten Streichen, ominös pluckernden Beats, weißem Rauschen – um am Ende tatsächlich noch die angedeutete Form eines Songs anzunehmen und sich nicht zu verlieren.

Für ein Album zweier außergewöhnlicher Gitarristen bleibt ihr angestammtes Instrument erstaunlich oft im Hintergrund. Wenn sie aber einsetzt und plötzlich kurz übernimmt wie in der Mitte des treffend betitelten "Words out of the haze" macht das den Effekt umso stärker. Die meisten Stücke besitzen eine elektronische Basis, die nach und nach unter analogen Klängen (Marimba, Vibraphon) und manipulierten Field Recordings brüchiger wird. Sie sind greifbar und ungreifbar zugleich, mal tritt eine eingängige Gesangsmelodie in "New brain trajectory" hervor, dann wird sie wieder zerschossen und fragmentiert. Kein Zufall, dass im Titeltrack das Paradox aus An- und Abwesenheit mantraartig auf ein Bild hin verdichtet wird: "We are like the snow."

Ranaldo pendelt dabei zwischen sanftem und warmem Gesang, der auch die sperrigsten seiner Lieder immer ein wenig zu beschwichtigen scheint, und Spoken-Word-Passagen, die manchmal sogar synchron einsetzen. Der Sänger und der Dichter im Wettstreit (Jonathan Lethem kollaborierte im Übrigen wieder bei einigen Texten). Im famosen "Light years out" öffnet sich zu Beginn eine Erzählung ohne musikalische Begleitung und in den wenigen Minuten danach lauscht man einem tanzbaren Groove, der in knisterndem Drone verebbt. Wie erwähnt: Immer bleibt der Song über dem bloßen Geräusch klar erkennbar.

Nachdem Ranaldo zuletzt mit konventionelleren Alben aufwartete, die sich eher an Neil Young oder Wilco zu orientieren schienen und schärfer von seinen experimentelleren Ausflügen separiert waren, verknüpft die fruchtbare Kooperation mit Raül Refree Chaos und Struktur auf faszinierende Weise. Musikalisch grenzen sie sich ab von Sonic Youth, verhandeln mit anderen Mitteln aber möglicherweise ähnliche Fragen. In jedem Fall zeigt "Names of North End women" zwei Musiker, die marginalisierten Geschichten und Geräuschen einen Raum geben, der sie sprechen lässt und doch nicht einfängt. Die Würde des Älterwerdens: wie so vieles bei Lee Ranaldo einmal anders gedacht.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Alice, etc.
  • Words out of the haze
  • New brain trajectory
  • Light years out

Tracklist

  1. Alice, etc.
  2. Words out of the haze
  3. New brain trajectory
  4. Humps
  5. Names of North End women
  6. Light years out
  7. The art of losing
  8. At the forks
Gesamtspielzeit: 45:11 min

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Armin

2020-02-10 20:51:53- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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