Pinegrove - Marigold
Rough Trade / Beggars / IndigoVÖ: 17.01.2020
Six color pictures all in a row
Gar nicht mehr so einfach, bei Pinegrove den richtigen Ton zu treffen. Oder über diese unfassbar merkwürdig anmutende Geschichte hinwegzusehen, in der gleichzeitig so viel Dunkelheit und noch mehr Ungewissheit zu stecken scheint. Warum es also erst versuchen? Mit ihrem vierten Album "Marigold" wagen Pinegrove das Comeback vom Comeback, sie offenbaren ihr Leben als Katze mit gleich mehreren Leben. Sie zeigen auf, was am Ende dann doch irgendwie in jedem Menschen steckt: mehrere Facetten. Mal fröhlicher, mal trauriger. Mal hell erleuchtet und knackig bunt. Mal unscharf und verwackelt.
Als die Band rund um Sänger Evan Stephens Hall 2010 auf der musikalischen Bildfläche auftaucht, ist noch alles gut. Es folgt zwei Jahre später die Veröffentlichung ihres Debütalbums "Meridian", der erste Achtungserfolg lässt nicht lange auf sich warten, und doch braucht es das tolle "Cardinal" von 2016, um das Gespann aus New Jersey vom Geheimtipp-Magazin in den Rolling Stone zu befördern. Endlich auf dem Weg nach oben! Was kann da noch schiefgehen? Nun, so gut wie alles. Ende 2017 veröffentlicht Stephens Hall auf Facebook ein Statement und verkündet nicht nur, dass man ihn der sexuellen Nötigung beschuldigt hat, sondern dass das alles zutreffend ist, er sich in Therapie befände und man sämtliche Tour-Termine sowie die Veröffentlichung des kommenden dritten Albums canceln würde. Bumm.
"Skylight", das besagte Drittlingswerk, fand fast ein Jahr später doch seinen Weg zu den Fans, in Eigenregie vertickten Pinegrove das Teil mit dem Zusatz "Name your price" über ihre Bandcamp-Seite, da sie mittlerweile auch noch ohne Label waren. Nach der Absage weiterer Konzerte und fast einem weiteren Jahr wurde schließlich der nun vorliegende, brandneue Longplayer "Marigold" angekündigt. Wie steht man dem nun gegenüber? Auch im Zuge der großen, lange überfälligen "Me too"-Bewegung gab es zumindest öffentlich keine weiteren Vorwürfe gegen Stephens Hall, der nach wie vor zu seinem eigenen Fehlverhalten steht. So bleibt einem als Hörer also nur übrig, die Musik vom Menschen dahinter zu trennen und abzuwarten, ob noch was passiert – und was dieses "was" genau ist. Immerhin dafür eignet sich "Marigold" erstaunlich gut: Warten ist ja nie toll, erst recht nicht so ziellos, aber mit derart gelungener musikalischer Untermalung lässt es sich aushalten.
Das im Titel platzierte Ringelblümchen mit seinen zahlreichen Verwendungsmöglichkeiten – Wikipedia erwähnt es als "Schmuckdroge" und weckt damit kurzzeitig großes Interesse bei der Rezensentin – ist ein wiederkehrendes Thema auf dem Album. Immer wieder singt Stephens Hall von "Marigold", so etwa im launig-lauschigen "The alarmist" mit astreinem Gitarrensolo und eindringlichem Sänger am Mikrofon, der von der eigenen Unsicherheit und der dringend benötigten Hilfe von außen erzählt. An anderer Stelle, im ruhelos-hektischen "Phase", wirbelt die Band nicht nur vor lauter Schlaflosigkeit durchs Bett, sondern gleich durchs ganze Haus, rempelt da mal einen Tisch um, dort ein Regal, aber immerhin immer mit so viel Charme, dass sogar das anschließende Aufräumen noch Spaß macht.
Nein, "Marigold" ist keine zurückhaltende Entschuldigungs-Platte. Zum Glück – auch Reue kann zu dick aufgetragen werden. Stattdessen ist das vierte Album von Pinegrove die logische Weiterführung ihres bisherigen Schaffens, eine Sammlung von elf kleinen Perlen zwischen Indie-Rock und Alternative-Country. Gemeinsam mit dem Opener "Dotted line" zieht man durchs verschlafene Dorf vor der Großstadt, wartet mit dem epischen "Endless" das Ende dieser schier endlosen Nacht ab, bis zur Sanftheit von "Alcove" die ersten Sonnenstrahlen über den Asphalt blitzen. Das zunächst vielleicht unscheinbarste, aber dann doch sehr klare Highlight des Albums ist jedoch das letzte Stück und der gleichzeitige Titeltrack, der dem Blümchen rein instrumental beim Wachsen, Blühen und Verderben zuschaut. Zum Schluss merkt "Marigold" dann selbst: Manchmal braucht es gar keine Worte, sondern nur ein Bild. Und wie merkwürdig ist das denn bitte schon wieder?
Highlights & Tracklist
Highlights
- The alarmist
- Endless
- Marigold
Tracklist
- Dotted line
- Spiral
- The alarmist
- No drugs
- Moment
- Hairpin
- Phase
- Endless
- Alcove
- Neighbor
- Marigold
Im Forum kommentieren
MartinS
2020-10-22 11:56:40
Bisher mein liebstes Album dieses Jahr. Nutzt sich nicht ab und lässt einen immer wieder neue Highlights entdecken.
MartinS
2020-01-22 12:58:55
Ich mag das Album auf Anhieb sehr, unter anderem aufgrund der angesprochenen Trägheit. "Phase" ist auf jeden Fall ein Highlight, wenn man denn eines herausheben möchte. Funktioniert aber auch als Album einwandfrei, das.
Gordon Fraser
2020-01-17 16:22:25
Ähnlich wie bei BBC ein sehr entspanntes Album, wobei Pinegrove ja schon immer eine gewisse Trägheit in ihrem Werk hatten - gar nicht böse gemeint, sondern ein Qualitätsmerkmal. Das schielt schon stark in Richtung Whitney, aber ich persönlich kann gar nicht genug solcher Alben haben. Mit "Phase" dann aber doch eine Uptempo-Nummer für mich das Highlight bislang.
dryeye
2020-01-14 17:40:49
https://pitchfork.com/features/article/reckoning-with-pinegrove/
Zitat J.Deppner
" So bleibt einem als Hörer also nur übrig, die Musik vom Menschen dahinter zu trennen und abzuwarten, ob noch was passiert "
Der obige, m.E. sehr glaubwürdig geschriebene, Artikel sollte doch ausreichen, um das Thema endgültig ad acta zu legen.
Ich würde mich für die Band sehr freuen, wenn es in zukünftigen Rezensionen nur noch um deren Musik gehen würde.
MfG dryeye
saihttam
2020-01-13 14:43:16
Ein Album von 2020 als vergessene Perle 2019? Interessant! ;)
Ich freu mich drauf. Der Vorgänger war emotional sehr berührend.
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