Tua - Tua
Chimperator / Groove AttackVÖ: 22.03.2019
Das Plus
Tua kennen heute viele vorwiegend als Orsons-Mitglied und kreatives Mastermind hinter der Crew aus Stuttgart. Dabei ist er schon viel länger im Rap-Game aktiv. Erinnert sich noch jemand an den Label-Sampler "Liebling, ich habe das Label geschrumpft" von 2008, den Tua mit Samy Deluxe und Ali As auf Deluxe Records veröffentlichte? Nicht unbedingt ein Karriere-Highlight für den Reutlinger. Sein 2009er-Solo-Album "Grau" jedoch blieb vielen HipHop-Fans gut im Gedächtnis. Außer ein paar (nicht weniger starken) EPs ließ Tua als Einzelkünstler in den letzten zehn Jahren nicht so viel von sich hören – bis er im Frühjahr 2019 sein insgesamt drittes vollwertiges Solo-Werk veröffentlichte. Nicht wenige sagen, dass der neue Tua-Langspieler das Rap-Album des Jahres ist. Das hat vor allem zwei Gründe: Die Platte ist einerseits zwar sehr poppig-eingängig, gleichzeitig aber nicht weniger deep, ein nahezu perfekter Mix.
Schon die erste Single, zeitgleich der Opener, "Vorstadt" bringt genauso einen starken Singalong mit sich, wie es auch eine spannende Geschichte erzählt. Das ist auch nicht schlechter als wenn Arcade Fire dasselbe Thema auf "The suburbs" anschneiden. Bausa und Afrob sind am Start und gemeinsam mit Tua erzählen sie zu flirrenden Moll-Geigen und romantisierendem Boom-Bap-Beat vom Aufwachsen, wo es "dann doch mehr Dorf als Großstadt" ist. Nach zweieinhalb Minuten bricht die Stimmung, ein Sample in russischem Akzent berichtet vom Geschäften, Gewalt, diesdas. Der Bass zerlegt sich selbst und Tua keift im Chor noch mal die Hook. Genauso stark ist "FFWD", das von einem Leben im Zeitraffer erzählt, während drumherum orientalisch angefixte Synthies und draufgängerisches Drum-and-Bass-Getrommel toben. RAF Camora gibt sich im Chorus die Ehre und es ist vorprogrammiert, dass dieses Vorspulleben ins Auge geht, aber: "Lieber, lieber fall' ich tief, als niemals überhaupt da oben gewesen zu sein."
Ähnlich hektisch geht es im Instrumental von "Bruder II" zu, das sich zwischen The Prodigy und aktuellem Grime einpendelt. Der Rapper berichtet von zwei parallel verlaufenden Leben, die sich doch gänzlich unterscheiden. Das eine verläuft relativ bürgerlich, das andere im ständigen Wechsel von Freiheit und Knast. Am Ende ist es vor allem die Staatsangehörigkeit, die im Streichergewitter Glück und Unglück separiert. Anderswo sind nicht Entfremdung und Heimatverlust, sondern Abschied und Tod das Thema. "Vater" erzählt auf schauerlich anschauliche Weise den Leidensweg von Tuas ukrainisch-schwäbischem Papa nach. Wenn dieser nach langer Krankheit stirbt, setzt die Musik kurz aus und der Rapper spricht zwischen dumpfem Beat-Gewaber gen Himmel: "Du warst mir ein wunderbarer Vater." Das berührt.
In "Tiefblau" kann man Tua getrost mit James Blake vergleichen, wenn er in wässrig wabbelnder Kulisse das musikalische Thema immer weiter aufbaut und schließlich wieder dekonstruiert. Der Rapper singt im Falsett abstrakt von der Vereinigung, was er im folgenden "Bedingungslos" dann weniger kryptisch noch einmal aufgreift: "Lieb mich, wenn ich es am wenigsten verdient habe", heißt es da, wenn der liquide Beat des Vorgänger-Stücks sich langsam aber sicher in ein wildes 8-Bit-Gemetzel steigert. Die russischsprachige Bridge übernimmt Sängerin Kazka. Im fast secheinhalbminütigen "Gloria" singt Tua zu zackigen Rhythmen sein zweitbestes Liebeslied 2019 nach "Feuer & Öl" von der "Orsons Island", "Liebe lebt" liefert einen deftigen Singalong samt Handclap-Melodie und Dance-Beat. Ähnlich verhält es sich mit "Dana", das gar nicht erst versucht, seine Pop-Wurzeln zu leugnen. Könnte musikalisch auch ein Mark-Forster-Track sein, nur ist Tua natürlich lyrisch viel zu klug unterwegs, um das zuzulassen.
Zum Abschluss mimt der Rapper zu gezupfter Gitarre den Singer-Songwriter. Auch das beherrscht der Reutlinger erstaunlich großartig, ist er doch eben auch ein fantastischer Storyteller. "Tua" ist ein Album, das so viele Facetten kennt, dass es kaum möglich sein dürfte jede einzelne zu entdecken. Trotzdem ist es keine Vertrackheit der Marke Radiohead, sondern eine viel spielerische, die zu keinem Zeitpunkt abgehoben wirkt. Die Liste der Einflüsse des Albums reicht von Moby bis zu Golden-Era-HipHop. Insbesondere die Neunzigerjahre und frühen Nuller sind immer wieder herauszuhören, aber nur das jeweils beste von ihnen. An anderer Stelle lässt Tua einen zeitlosen House-Beat reinkrachen, wieder anderswo übernehmen gepitchete Vocals die Rhythmus-Funktion. Während "Grau" eine ähnliche Drastik auffuhr, aber instrumental meist sehr geradeaus schoss, ist "Tua" musikalisch noch um einiges ausgetüftelter und zeugt von Tuas Musikerleben der letzten zehn Jahre. Es gelingt dem Rapper so, eine Platte zu machen, die vielfältig und dennoch nicht zerrissen wirkt, ein Album, das so modern ist, dass es seinesgleichen sucht und schambefreit aufdeckt, wie gleichförmig und kraftlos HipHop heutzutage oft ankommt, auch weil immer dieselben Narrative bemüht werden. "Tua" ist das Plus hinter der Zensur des Einserschülers.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Vorstadt
- FFWD
- Vater
- Bedingungslos (feat. Kazka)
Tracklist
- Vorstadt
- FFWD
- Ich von morgen
- Bruder II
- Wem mach ich was vor
- Gloria
- Liebe lebt
- Vater
- Tiefblau
- Bedingungslos (feat. Kazka)
- Dana
- Wenn ich gehen muss
Im Forum kommentieren
Affengitarre
2023-07-26 22:18:46
Ja, das Video kenne ich und ich finds auch klasse. Nur der Song ist mir etwas zu stumpf, gerade der Refrain. Gerade zwischen dem mächtigen „Gloria“ und dem intensiven „Vater“ irgendwie ein Fremdkörper.
Earl Grey
2023-07-26 21:37:28
Hey Affengitarre...
Kennst du dieses Video?
Gloria / Liebe lebt
Wie kann man denn da noch mit -Liebe lebt-" nichts anfangen???
Affengitarre
2023-07-26 11:28:10
Hab das Album gestern wieder gehört und wurde komplett weggeblasen. Wie unfassbar gut das alles auch produziert ist! Nur mit „Liebe lebt“ kann ich immer noch nicht so viel anfangen. „Gloria“ hingehen kann ich immer noch kaum genug loben.
Affengitarre
2021-07-22 21:52:55
Ja, hervorragendes Ding. Mit "Ich von morgen" und "Liebe lebt" kann ich weniger anfangen, sonst ist das fast durchgängig höchstes Niveau. Gerade "Vorstadt", "Bruder II" und vor allem "Gloria" sind riesengroß. Klasse Typ
Autotomate
2021-07-22 20:20:33
Höre es gerade mal wieder, problemlos eins der besten deutschsprachigen Alben der letzten Jahre. Mit ein paar Kürzungen wäre das ne fette 10 gewesen.
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