OG Keemo - Geist
Chimperator / Groove AttackVÖ: 22.11.2019
Manche Leute sagen, es gibt keine Gepenster
Es geht ein Beben durch die deutsche HipHop-Landschaft. Nach einigen EPs und dem Erfolgs-Video zu "Vorwort" weiß momentan gefühlt jeder in der Szene, dass "Geist" etwas anderes ist. OG Keemos neue 13 Songs sind überwältigende Straßenpoesie im besten Sinne, ein flowendes Album mit konzeptuellem Überbau, ein Black-Power-Manifest in grauschwarzen Farben. Morbide Ästhetik trifft auf den tiefen Schmerz der Diskriminierung, verzweifelt optimistische Soul-Samples auf den roughen Trap-Nihilismus von Funkvater Frank.
Mit welcher kaltblütigen Straßen-Attitüde Keemo im Finale von "Nebel" über den Beat rollt, ist in den letzten Jahren Deutschrap wohl bisher einzigartig: "Ich bin siebzehn, klaue Autos mit meinen Niggas / 170 auf der Autobahn, Rauchschwaden aus dem Civic / Und fahr' ihn an 'ne Hauswand, falls die Blauen uns erwischen / Sag ihnen, fuck it, ich bin down mit meinen Niggas." Der Track gibt uns zu Anfang des Albums einen Crashkurs in die Biografie des Mainzers: Unromantisierte Kindheit, erste Erfahrungen mit Rassismus, dann Gewalt und Kriminalität. Der 26-Jährige exportiert genau die Thematiken afroamerikanischer Rapper in ein sich gerne in allzu großer Political Correctness badendes Deutschland und konfrontiert die hörende Gesellschaft mit knallharter Realität, filmreifen Gewaltfantasien und ausgetrecktem Mittelfinger Richtung racial-profilender Exekutive, gepaart mit einer künstlerischen Ambition, die ihresgleichen sucht.
In Kombination zur Straßen-Attitüde propagiert "Geist" ein politisches Moment, wie man es sonst nur von Größen wie Kendrick Lamar zu kennen glaubt – auch, weil sich OG Keemo der Rhetorik seiner US-amerikanischen Kollegen bedient, exzessiver Gebrauch des N-Wortes inklusive. "216" führt dieses Black-Power-Gedankengut auf intensivste Weise auf den Punkt: "Ich denke an blaues Licht auf schwarzer Haut / Ich bin der Sohn von meinem Vater / Ich mag meine Nase breit und meine Haare kraus / Ich mag meine 38er mit scharfem Lauf / Sag ihnen, ich bin weit entfernt vom Sklavenhaus." Das Highlight des Albums bietet eine fast unerschöpfliche Auswahl an zitierwürdigen Lines. Fast a-capella rezitiert Keemo Billie Holidays "Strange fruit" über dem minimalistischen Horror von Funkvater Frank. Am Ende bleibt eine handfeste Anklage gegen die Art und Weise der westlichen Gesellschaft, mit Menschen afrikanischen Ursprungs umzugehen: "Mein Vater sagte 'Halt ihnen nie die andere Wange hin / Sie werden uns nie lieben, weil wir anders sind."
Die Welt von "Geist" ist düster, ohne zu deprimieren. Sie verstört, ohne abzuschrecken. Keemo praktiziert auf seinem Album das, was HipHop am besten kann – Außenstehenden wie Szene-Kennern ungefiltert seine Lebenswelt ins Gesicht zu kotzen: "Ich bin die Unterführungen, die Deine Leute aus Angst vor Problemen meiden, Nigga, ich bin die andere Gegend / Er sagte mir damals, er wollte als Junkie nicht leben und sprang aus dem Zehnten / Hoe, ich bin der Grund für Deinen Angstschweiß / Mann beißt Hund, wo ich herkomm" heißt es am Anfang des Interludes "55", mit "Siedlung" der größte lokalpatriotische Representer-Moment seit Sidos "Mein Block". Das Ende des Tracks zeigt, welche Schneise der Verwüstung ein MC wie Keemo hinter sich lässt, wenn er einmal in Fahrt kommt. Wortschatz, Reimketten, Vergleiche und Credibility gehen hier völlig neue Wege. Egal auf welcher Ebene, der Mainzer ist herausragend.
Wie eingangs erwähnt funktioniert OG Keemo aber auch nur als Duo durch seinen kongenialen Producer Funkvater Frank. Wie der Kindheitsfreund des MCs bittersüße Soul-Samples mit wabernden Bässen in roughe Trap-Beats flippt und progressiv mit knallharten Drums unterlegt, ist in Deutschland bisher einzigartig. Auch die Instrumentals schaffen es daher, in einer eigenen Liga zu spielen – "neue Ära und alte Schule" vereint, mit Einflüssen von Atlanta über London bis Bietigheim-Bissingen und doch zu jeder Sekunde einhundert Prozent individuell. Das Soundbild von "216" etwa brodelt unheilvoll mit dem Klingen von Ketten, Oldschool-Klaviersample und allerlei gedetunt-verzerrter Klanghexerer organisch vor sich hin, nur um im Finale völlig in die Anarchie zu explodieren. Keemos schon beschriebene, surreal intensive Schilderungen und Anklagen tun ihr Übriges, um dem Hörer den Hals zuzuschnüren: "Wer ist der Nigga ohne Ketten um den Hals?"
"Geist" verstört auf vielen Ebenen. Es rüttelt auf, macht wütend, verzweifelt, begeistert, schockiert. Der 26-jährige stilisiert seine eigenen Erlebnisse und seine Biografie zum Rassismus und Polizeiwillkür anprangernden Geist. Nie greifbar und doch irgendwie da, irreal, aber als Gedanke in den Köpfen der Menschen gepflanzt. Ein Vermächtnis an knallhartem Realismus, poetischer Überspitzung und einem Schrei nach Gerechtigkeit. OG Keemo und Funkvater Frank sind eine Erscheinung, die höchstens alle paar Jahre einmal vorkommt. Egal, was nach dieser Platte passiert: Der "Geist" bleibt. So groß kann Deutschrap sein.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Nebel
- 55 (Interlude)
- 216
- Outro
Tracklist
- Teer (Prolog)
- Nebel
- Set
- 55 (Interlude)
- Siedlung
- Geist
- Belly freestyle
- Daimajin
- 216
- Neuner
- Zinnmann
- Faust
- Outro
Im Forum kommentieren
ichreitepferd
2022-01-11 06:25:17
Neues Album setzt nochmal eins oben drauf.
Neben Prezident der momentan beste deutsche Rapper im einem fast (gehirn)toten Umfeld.
Wenn's hier keine 9 gibt is Montagsspaziergang angesagt.
DAS plus Amewu, wo in zwei Wochen nach 10 Jahren auch endlich mal wieder ein Album erscheint, bilden die heilige Dreifalttigkeit.
Christopher
2022-01-11 05:35:40
Musikalisch spielt das im Deutschrap in einer eigenen Liga.
Sheesh
2022-01-11 00:26:03
Neues Album setzt nochmal eins oben drauf.
Neben Prezident der momentan beste deutsche Rapper im einem fast (gehirn)toten Umfeld.
Wenn's hier keine 9 gibt is Montagsspaziergang angesagt.
smrr
2022-01-08 11:36:02
Bockstarkes neues Album. Total im Moment, auf angenehme Art persönlich und mit angenehm zeitloser Produktion.
Yndi
2022-01-07 09:19:06
Neue Scheibe heute erschienen. Erster Durchgang war fett, auch wenn das nicht unbedingt meine Musik ist.
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